Isegrim
nie gegeben hat, darin fühle ich mich sehr an Alina erinnert. Und doch: Auch ich habe Zeiten, in denen ich nicht an Lisa denke.
Mit den mündlichen Englischprüfungen ist der ganze Prüfungsspuk schlagartig vorbei und Schule existiert für mich nur noch am Rande. Weil ständig Lehrer krank sind und Vertretungslehrer fehlen, haben wir eine Menge Unterrichtsausfall in den letzten Tagen vor den Sommerferien, trotzdem habe ich mehr Stress als jemals zuvor in meinem Leben.
Wenn ich mit Saskia und Kai zusammen bin, versuche ich, die Jola zu sein, die sie kennen. Bin ich mit Olek zusammen, versuche ich herauszufinden, wer die neue Jola ist und was sie eigentlich will. (Und was Olek von dieser Jola will.) Ma versuche ich weiÃzumachen, dass alles in bester Ordnung ist. Was zunehmend schwieriger wird, denn inzwischen ist ihr zu Ohren gekommen, dass im Nachbardorf ein Mädchen verschwunden ist.
Wir geraten heftig aneinander, denn für meine Mutter zählt (natürlich) nicht, dass Lisa schon siebzehn und nicht das erste Mal abgehauen ist. Für sie zählt nur, dass Lisa noch nicht wieder aufgetaucht ist. Doch sosehr ich meine Sorge mit ihr teilen möchte: Ich kann es nicht. Ich darf nicht. Ich werfe ihr all die Gemeinheiten an den Kopf, die über Lisa kursieren â nur, damit ich ja kein Waldverbot bekomme.
Und Pa, der rettet mich mal wieder. Wie alle anderen ist er der Meinung, dass Lisa abgehauen ist.
»Nun beruhig dich doch, Ulla«, versucht er, meine Mutter zu beschwichtigen. »Hubert hat mir versichert, dass er ein Auge auf Jola hat. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
Pas beiläufige Offenbarung haut mich beinahe um. Denn jetzt fange ich an, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Um Olek. Um die Wölfin. Aber ich sage nichts.
Und dann, an einem Samstagnachmittag, genau vier Wochen nach ihrem Verschwinden, taucht Lisa plötzlich quietschvergnügt am Badesee auf, so, als wäre sie nie fort gewesen. Sie ist nicht allein, ein junger Mann mit Pferdeschwanz ist bei ihr und bei genauerem Hinsehen entpuppt er sich als der Geiger von Carpe Noctem .
Alles, was in Grüppchen zwischen den Bäumen und Sträuchern am Uferrand auf Decken und Handtüchern liegt, starrt zu den beiden hinüber. Sie küssen und necken sich, Lisa wirft ab und zu den Kopf in den Nacken und lacht über etwas, dass der Geiger gesagt hat. SchlieÃlich toben sie ausgelassen in den See und setzen die Küsserei im Wasser fort.
»Ganz groÃes Kino«, bemerkt Saskia.
Kai macht ein so bedeppertes Gesicht, dass ich laut lachen muss. »Da ist sie ja wieder, unsere Lisa. Von den Toten auferstanden.«
»Das ist echt der Hammer.« Immer noch ungläubig schüttelt Saskia den Kopf. »Und ich hatte tatsächlich angefangen, mir ernsthaft Sorgen um sie zu machen.«
Davon habe ich allerdings nichts bemerkt, denke ich im Stillen.
Saskia starrt immer noch über den See. »Hoffentlich hat ihre Mutter sie wenigstens ordentlich zur Schnecke gemacht.«
»Einen sonderlich schuldbewussten Eindruck macht sie jedenfalls nicht«, brummt Kai.
»Ob sie die ganze Zeit bei ihm war?«
Höre ich da einen Anflug von Neid in Saskias Stimme?
Kai gibt einen genervten Seufzer von sich und steht auf. »Geh doch hin und frag sie, wenn es dich so brennend interessiert.«
Er rennt ins Wasser und schwimmt in kräftigen Zügen. Saskia zieht eine Grimasse. Ich schüttele den Kopf, lache. Lisa ist wieder da und es geht ihr gut, die bösen Zungen haben recht behalten und mir fällt ein groÃer Stein vom Herzen.
»Hey, schau mal da!« Saskia rammt mir ihren Ellenbogen in die Seite. Sie deutet auf jemanden, der allein im Schatten eines kleinen Strauches sitzt, unweit von Lisa und ihrem langhaarigen Lover. »Ist das nicht Magnus?«
»Sieht ganz so aus.«
»Was macht der denn hier? Spannen?«
»Und wenn«, erwidere ich. »Lass ihm doch den SpaÃ. Der Typ ist harmlos.«
»Bei dir ist jeder harmlos, Jola. Du siehst in allen Menschen immer nur das Gute. So ist diese fiese, kalte Welt aber nicht.«
Ich lasse mich stöhnend aufs Handtuch fallen.
»Dass Magnusâ Hirn nicht mehr top funktioniert«, ereifert sich Saskia, »heiÃt ja nicht, dass auch seine Fleischeslust beeinträchtigt ist.«
Fleischeslust? Ich halte mir mein T-Shirt vors Gesicht und grinse. »Magnus war früher oft am See. Er ist ein guter
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