Isegrim
immer nicht wieder zu Hause bei ihrer Mutter ist, versuche ich, nicht in Panik auszubrechen. Offensichtlich sucht ja nicht einmal die Polizei nach ihr und laut Marco gibt es dafür auch einen Grund: Lisa ist nicht das erste Mal für Tage verschwunden, und weil sie so ist, wie sie ist, hat sie in Eulenbach den Ruf eines Flittchens.
Es macht mich wütend, dass das Gerede der Dorfbewohner für die Polizei Grund genug ist, keine Pressemeldung herauszugeben, aber insgeheim hoffe ich trotzdem, dass die Leute recht behalten. Lieber ein schlechter Ruf und am Leben als noch ein toter Engel.
Fast jeden Tag bin ich für ein paar Stunden im Wald. Im groÃen Jägerrucksack transportiere ich Lebensmittel, die ich von meinem Taschengeld kaufe, denn meine Mutter hat begonnen, sich über meinen Appetit zu wundern. Ich schleppe Bücher in den Wald, um Oleks kleine Bibliothek (eine Bibel, Grimms Märchen und ein Heilpflanzenbuch) ein wenig aufzustocken, und bringe ihm Kleinigkeiten, um die er mich bittet. Einen Schreibblock, Stifte, Salz, eine Handvoll Nägel, eine neue Zahnbürste und Zahnpasta.
Oft begegne ich ihm auf halber Strecke zur Höhle, als würde er ahnen, dass ich komme. Olek hält sein Versprechen: Er passt auf mich auf. Meist sieht er mich, bevor ich ihn sehe. Wenn ich dann vor ihm stehe, leuchtet immer ein Lächeln in seinem Gesicht auf.
Inzwischen habe ich doch angefangen, ihm von der Schule zu erzählen, von meinen Eltern, meinen Freunden und vom Dorf. Sogar von meiner toten Freundin Alina. Olek ist ein guter Zuhörer. Meist lauscht er mit schief gelegtem Kopf und voller Aufmerksamkeit, ob ich nun von meinen neuen Klamotten aus Saskias Fundus erzähle, von meiner angstgeplagten Mutter oder davon, dass ich zuerst dachte, ich hätte Alina gefunden, als ich auf Oleks skelettierten Mitbewohner gestoÃen bin.
Ich erzähle ihm die Geschichte von Marie und dem polnischen Jungen, den sie liebte, dass dies hier vermutlich die Höhle ist, in der sie sich damals trafen, und dass der Tote mit groÃer Wahrscheinlichkeit Tomasz ist.
»Er ist 1965 noch einmal hier gewesen, bei einem militärischen Manöver, hat mir Agnes erzählt. Zuletzt wurde er in Ohrdruf gesehen, das ist eine kleine Stadt, hier ganz in der Nähe. Seitdem ist er verschollen.«
Olek ist auf einmal hellwach. Sein Körper scheint zu vibrieren. Gierig saugt er jedes meiner Worte auf.
»Fast fünfzig Jahre lang war er ganz in Maries Nähe«, sage ich. »Wahrscheinlich ist er ermordet worden, von demselben Mann, der damals den Ami erstochen hat. Ich kann es kaum erwarten, die Gesichter der Alten zu sehen, wenn Tomasz zu sprechen beginnt.«
Bestürzt blickt Olek mich an. »Was?«
Ich muss lachen. »Natürlich wird er nicht wirklich sprechen, aber sie können forensische Untersuchungen machen. Herausfinden, woran er gestorben ist und so.«
»Du darfst es niemandem erzählen, Jola. Niemandem, verstehst du.«
»Nein, natürlich nicht. Keine Angst â¦Â«
Es gibt gebratenes Kaninchen und frisches Brot, das ich mitgebracht habe. Nach drei Jahren esse ich zum ersten Mal wieder Fleisch. Eine Geschmacksexplosion auf meiner Zunge. Das Kaninchen ist zart und das Fleisch quillt nicht in meinem Mund, wie ich befürchtet habe. Es zu essen, fühlt sich nicht falsch an. Olek hat das Tier mit Pfeil und Bogen erlegt, hat es abgezogen und ausgenommen, weil er Hunger hat und essen muss. Kein Futtermittelskandal, keine Massentierhaltung, kein Schlachthof, kein Gammelfleisch.
Als ich ihm von meinen drei fleischlosen Jahren erzähle, glaubt er mir nicht.
»Du bist die Tochter eines Jägers, wie kannst du kein Fleisch essen?«
»Eben deswegen. Ich wollte etwas wiedergutmachen.«
Seit dem nächtlichen Kuss unter meiner alten Kiefer hat es keine weiteren Küsse gegeben. Es gibt zufällige und weniger zufällige Berührungen, die jedes Mal StromstöÃe durch meinen Körper schicken. Zum ersten Mal in meinem Leben weià ich, was Verlangen ist. Jede Faser meines Körpers verlangt danach, Olek zu berühren und von ihm berührt zu werden.
Ich bin so verliebt, dass ich mich selbst für verrückt halte. Und je mehr Zeit ich mit Olek verbringe, desto intensiver wird das Gefühl. Nirgendwo fühle ich mich so lebendig wie in seiner Nähe, Olek akzeptiert mich â bedingungslos. Er weiÃ, was der Wald mir bedeutet, und er ist der
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