Isegrim
einzige Mensch, mit dem ich mein Refugium wirklich teilen kann. Um bei ihm zu sein, belüge ich meine Eltern, ich belüge Saskia. Aber was schlimmer ist, ich belüge auch Kai. Und es sind nicht mehr die alten, unschuldigen kleinen Notlügen. Ich habe mich in einen Dieb verliebt und treffe mich heimlich mit ihm in einer Höhle im Wald, während Kai glaubt, dass ich hier drauÃen für die Prüfungen lerne oder seltene Tiere beobachte.
Lügen haben kurze Beine, hat Uroma Hermine immer gesagt, wenn sie mich bei einer erwischte. »Das sind nur kleine Notlügen«, habe ich mich dann herausgeredet.
»Kleine Lügen, groÃe Lügen, das macht keinen Unterschied, Jola. Eine kleine Lüge kann eine groÃe Lüge sein, ohne dass man es weiÃ, wenn man sie ausspricht.«
Oma Hermine hat viel gewusst über das Leben.
Am Nachmittag vor der mündlichen Englischprüfung sitzen Saskia und ich noch einmal bei ihr im Garten und üben Bildbeschreibung und Präsentation. Als Max uns selbst gemachte Erdbeer-Milchshakes an den Gartentisch bringt, klappen wir unsere Hefter zu. Genug ist genug.
Wir schlürfen unsere Shakes und sind schnell beim Thema Lisa Menninger. In der Schule und in Eulenbach kursieren inzwischen die wildesten Gerüchte über ihren Verbleib. Jemand will beobachtet haben, wie Lisa zu einem Fremden ins Auto gestiegen ist, ein anderer behauptet, sie in Jena auf dem alten Markt gesehen zu haben, und ein Mädchen aus der Nachbarschaft hat damit herausgerückt, dass Lisa nach Italien wollte. Doch es gibt zunehmend auch besorgte Stimmen und in diesem Zusammenhang ist Alinas Name aufgetaucht.
Saskia löchert mich mit Fragen zu meiner ermordeten Freundin. Sie will wissen, ob ich auch glaube, dass Alinas Mörder noch frei herumläuft und sich jetzt Lisa geschnappt hat.
Aber ich habe keine Lust, jetzt mit Saskia über Alina zu sprechen, und nach ein paar vergeblichen Versuchen gibt sie auf.
Um auf dem Weg nach Hause nicht zufällig Kai in die Arme zu laufen, nehme ich den Umweg. Als ich das Grundstück der Neumanns passiere, kommt er mir auf der StraÃe entgegen. Mist.
»Hey.« Er gibt mir einen Kuss. »Deine Mutter hat mir gesagt, dass du bei Sassy bist. Dein Handy ist mal wieder aus.«
»Wir haben für Englisch gelernt.« Es ist ein unglaublich gutes Gefühl, zwischendurch mal die Wahrheit zu sagen. »Gehen wir zu mir?«
»Laufen wir lieber ein Stück?«
EinigermaÃen verwundert über seinen Vorschlag, aber auch alarmiert durch den Ausdruck in seinem Gesicht, nicke ich. »Okay.«
Wir laufen an unserem Garten vorbei, ein Stück den Forstweg aus dem Dorf hinaus. Kai wirkt bedrückt, und da ich weiÃ, dass er über Gefühle nur schlecht reden kann, erwarte ich, dass er sich gleich über mich beschweren wird. Zurecht.
»Was ist los?«, frage ich schlieÃlich, weil ich es endlich hinter mir haben will.
»Jola«, druckst er herum, »du bist fast nur noch in deinem Wald, du â¦Â«
»Fängst du jetzt auch noch damit an«, unterbreche ich ihn. »Ich habe doch gesagt, ich kann am besten lernen, wenn ich allein da drauÃen bin. Der Wald inspiriert mich.« Verflixt, was rede ich da?
»Ja, ich weiÃ. Ach verdammt, hast du denn gar keine Angst?«
»Angst?« Verwundert schaue ich Kai an. »Kommst du mir jetzt mit denselben Sprüchen wie meine Mutter.«
»Nein.« Kais Blick ist ernst. »Aber Lisa ist verschwunden und du ⦠ach, ich weià auch nicht. Herrgott noch mal, du bist so naiv.«
»Naiv? Ich bin nicht naiv«, wettere ich los. »Ich bin bloà kein Angsthase.«
Kai nimmt mich an der Schulter und zieht mich zu sich herum. »Jola, ich habe Angst um dich, kapierst du das nicht? Du rennst ganz allein da drauÃen im Sperrgebiet herum, und wenn dich einer abmurkst und verbuddelt, dann verschwindest du auf Nimmerwiedersehen â wie Alina.«
In Kais blauen Augen spiegelt sich tatsächlich eine groÃe Sorge, und wäre ich eine andere, würde ich ihm endlich die Wahrheit sagen. Aber ich bin keine andere.
20. Kapitel
I n der zweiten Junihälfte wird es schlagartig heià und damit beginnt für die Dorfjugend wieder die Zeit am Badesee, auf die alle sehnsüchtig gewartet haben: schwimmen, Musik hören, lesen und faul in der Sonne liegen.
Von Lisa spricht kaum noch jemand, nicht mal in der Schule. Es ist, als ob es sie
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