Isenhart
Wahrheit war. Sie spürte fast körperlich seinen inneren Widerstand, sich tiefer in die Karten blicken zu lassen.
»Nun, sie haben Flügel«, sagte sie. In ihren Augen lag die Antwort auf der Hand.
Isenhart nickte, warf ihr einen prüfenden Blick zu, rieb sich die Sandkörner von den Händen und nahm neben ihr Platz, sehr nah, fast berührten sich ihre Arme. »Vielleicht werden Menschen auch einmal fliegen können«, sagte er, ohne Sophia dabei anzuschauen.
Sie war ehrlich verblüfft. Isenhart wendete den Kopf und las in ihren grünen Augen die Absurdität seines Gedankens. Er schlug den Blick nieder.
Sophia war, als habe Isenhart die Tür zu seinem Innersten einen Spaltbreit geöffnet und ihr das Privileg zugestanden, als Erste zu erkennen, was ihn umtrieb – und mit der Ablehnung seines Gedankens, die sich in ihren Augen widerspiegelte, hatte sie diese Tür soeben zugestoßen. Obwohl er sich direkt neben ihr befand, nahm sie wahr, wie mit einem Schlag Meilen zwischen sie traten. Diese Ablehnung, die er nun verspüren musste, war ihr nur allzu bekannt, sie war Sophias ständige Begleiterin gewesen. Sie wusste sehr genau, wie sie sich anfühlte. Sie konnte seinen latenten Schmerz über ihre Zurückweisung, die nur einem ersten Impuls entsprungen war, mit erleiden. Es machte ihr das Herz unsagbar schwer.
»Es war ein dummer Gedanke«, stellte Isenhart fest. Mit diesen Worten verriegelte er die Tür von innen.
Sie legte ihm die Hand auf das Schulterblatt, eine Berührung, die Sophia all ihren Mut abverlangte, aber zu der ihre Intuition sie ermutigte. »Das ist es nicht«, erwiderte sie, »es ist … ein ganz wunderbarer Gedanke, Isenhart. Verwegen und schön.«
Isenhart sah ihr erneut in die Augen. Aber die Meilen wollten nicht schwinden, sie nahmen sogar rasend schnell zu.
»Aber ein unsinniger«, log er, stand auf und entzog sich damit auch ihrer Hand. »Schwimmen wir zurück?«
Sophia hätte ihm gerne tausend Erklärungen gegeben, um diesenAugenblick des Vertrauens wiederherzustellen, aber jedes weitere Wort hätte nur noch mehr zunichtegemacht. Also nickte sie.
Auf dem Feld waren Vögel die natürlichen Feinde der Bauern, weil sie sich über die Ernte hermachten. Kamen sie zu Dutzenden, wurden sie zu einer existenziellen Bedrohung. Sie stibitzten Weintrauben ebenso wie Roggen, Weizen und Dinkel. Ansonsten taugten sie für eine Mahlzeit oder als Indikatoren für das Wetter. Warum auch immer sie sich aus den oberen Luftschichten zurückzogen und ihre Bahnen relativ knapp unterhalb der Baumwipfel zogen – waren sie dort vor Blitzen geschützt? –, mit ziemlicher Sicherheit kündigte ihr Verhalten ein Unwetter an.
Doch zumindest was die Bewohner von Heiligster betraf, sorgte Gweg für ein gewisses Umdenken. Denn er verblüffte sie alle mit seiner Intelligenz. Hieronymus argwöhnte zwar, der Antichrist habe diesen Vogel des Todes damit ausgestattet, aber auch ein Geistlicher war gegen Verblüffung nicht immun.
Wie immer hatten sie einige Wochen nach Gwegs Genesung – und der Erkenntnis, dass er an Heiligster offenbar einen Narren gefressen hatte und sich um nichts auf der Welt vertreiben ließ (einige Abfälle, die Isenhart ihm zuschusterte, mochten dabei eine Rolle gespielt haben) – ihr gemeinsames Abendessen mit einem Tischgebet begonnen.
»Amen«, beendeten sie ihren Dank an den Allmächtigen.
»Amen«, schloss Gweg sich an. Er saß im Fensterverschlag und wog seinen schmalen Kopf von links nach rechts. Das »Amen« bestand zwar aus einem ungelenken Krächzen, war aber dennoch als ein solches unverkennbar.
Ohne Ausnahme waren sie wie vom Donner gerührt, und ihre Hände, die sie nach den Holzlöffeln ausgestreckt hatten, verharrten in der Luft. Würde vielleicht im nächsten Augenblick der Leibhaftige in der Tür stehen und sie der ewigen Verdammnis überantworten?
Hieronymus, das musste der Neid ihm lassen, fasste sich als Erster. Er griff sich einen Besen und versuchte, den Raben damit zu erschlagen, doch der suchte mit ein paar Flügelschlägen Zuflucht auf einem Ast. Sie alle rannten hinaus, es herrschte helle Aufregung. Konrad, der auch in dieser Situation die Nerven behielt und sich mit der Überzeugung, eine pragmatische Herangehensweise könne nicht allzu verkehrt sein, die Armbrust schnappte, um Gweg den Garaus zu machen, wurde von Isenhart zurückgehalten.
Während Hieronymus bereits geweihte Kerzen entzündete, um das Haus vor dem glühenden Sog in die Hölle zu retten, die
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