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Isenhart

Isenhart

Titel: Isenhart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Karsten Schmidt
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sie sich einiges zu sagen und zu erzählen hatten, die Existenz dieses Raumes spürten sie beide. Aber den Zugang hatten sie noch nicht gefunden.
    So waren beide froh, dass Gweg den Weg über den Fluss fand, die Schwingen anmutig ausgebreitet, einen knappen Fuß über dem Wasser gleitend, und zwischen ihnen landete.
    »Hunger«, sagte er. Oder versuchte vielmehr mit krächzenden zwei Silben, die sein zahnloses Maul bilden konnte, jenes Wort nachzuahmen, auf das Isenhart ihn trainiert hatte. Dieses war ihm am leichtesten beizubringen gewesen, denn ein Rabe hatte immer Hunger; was für Gweg noch einmal im Besonderen galt.
    Sophia und Isenhart – dankbar, von dem Raben aus ihrem Schweigen erlöst zu werden – gruben eifrig den Ufersand nach Würmern um, die sie Gweg zuwarfen. Der Vogel wusste ihre Bemühungen zu schätzen.
    »Ich habe deine Zeichnungen gefunden«, sagte Sophia in die Stille hinein.
    Isenhart stutzte.
    »Wir haben deine und Konrads Kammer gereinigt, da fielen sie aus der Wand«, fügte sie hinzu.
    Isenhart nickte und grub weiter nach Würmern. Er hatte seine Zeichnungen eines Vogelflügels in einer natürlichen Mulde der Wand untergebracht und sie lediglich mit einem Stein verdeckt. Gut möglich, dass dieser beim Aufräumen zu Boden gefallen war und das Versteck preisgegeben hatte.
    Er warf Sophia einen Blick von der Seite zu und studierte ihr Profil. Die ebene Stirn, in der ein paar Strähnen hingen, die rötlich blonden Brauen, der gerade Rücken der Nase, der Schwung zu den Lippen, die nicht eben voll waren. Und dann das vorgereckte Kinn, das beim Betrachter stets den Eindruck von Willensstärke erweckte.
    »Was starrst du?« Mit einem Schlag sah sie ihn an, und Isenhart spürte, dass ihre energische, unhöfliche Frage aus eigener Unsicherheit resultierte.
    »Ich starre nicht«, erwiderte Isenhart ruhig, »ich sehe dich nur an.«
    Die Ruhe, mit der er die Worte von sich gab, steigerte ihre Unsicherheit. »Ich mag das nicht«, eröffnete sie ihm.
    »Du kommst nach deinem Vater. Du hast sein Kinn und seine Augen«, stellte Isenhart unbeirrt fest.
    »Hunger«, krächzte Gweg. Sophia warf ihm zwei Würmer zu.
    »Ist das gut oder schlecht?«
    »Ich weiß nicht. Es ist einfach so.«
    Kurz ließen sie die Stille wieder zwischen sich gleiten.
    Doch dann hielt Sophia es nicht länger aus. Sie wandte Isenhart ihr Gesicht zu. »Und nichts von meiner Mutter?«
    Isenhart tastete ihr Gesicht mit seinen Augen ab, Zoll um Zoll. Es dauerte einige Augenblicke, bevor er es endlich erkannte. »Das Wesen deiner Mutter war bestimmt von Sanftmut«, sagte er schließlich, »das hast du von ihr.«
    »Ich bin nicht sanftmütig«, entgegnete sie sofort, und die Schnelligkeit ihrer Antwort entlarvte sie.
    »Doch, bist du.«
    »Bin ich nicht.«
    »Du willst nicht sanftmütig sein, aber du bist es.«
    Sophia schluckte. Sie stellte das Graben nach Würmern ein und setzte sich in den feinen Sand.
    »Du hast mich getröstet, nachdem Chlodio mir das Auge aus der Höhle geschlagen hatte«, sagte Isenhart, »da warst du gerade sieben. Das war Sanftmut.«
    »Es war interessant.«
    »Du hast dich auf Annas Grab gelegt. Mitten im Winter.«
    »Das war dumm. Ich hätte erfrieren können.«
    »Ja. Aber es hat allen gezeigt, dass du nicht aus Stein bist. Und da hatten wir schon so unsere Zweifel.« Er grinste ein wenig, was von Sophia aber nicht erwidert wurde, weshalb er es sich schnellstens verkniff.
    »Und was hat das alles mit Sanftmut zu tun?«
    Isenhart sah auf, ihre Blicke trafen sich. Sophia, das konnte er ihr an der Nasenspitze ansehen, hatte die Frage nicht einfach so gestellt, sie wollte wirklich seine Meinung wissen.
    »Es hat damit zu tun, Teil des Ganzen zu sein. Hineinverstrickt zu sein in all das, was einen umgibt. Menschen, Tiere, Pflanzen, einfach alles. Und all dieses und deren Bedürfnisse zu achten. Das ist Sanftmut. Wenn das nicht ein Teil von dir wäre, würdest du für Gweg keine Würmer suchen.«
    Sophia sträubte sich dagegen, dennoch durchdrangen seine Worte all ihre Widerstände und berührten etwas tief in ihrem Inneren. »Dann bist du auch sanftmütig«, brachte sie hervor.
    Isenhart verharrte kurz auf seiner Suche nach Würmern für den Kolkraben. »Ja, dann bin ich es.«
    Sophia musste lächeln. Sie hatte noch nie einen Mann erlebt, der sich als sanftmütig bezeichnet hätte. Sanftmut galt als unmännlich. Und kein Mann wollte das sein. Obwohl sie sich innerlich dagegen stemmte, nahm Isenharts Bekenntnis sie

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