Isenhart
für ihn ein.
Ihre Widerborstigkeit stand mit ihm allerdings in keinerlei Zusammenhang. Es lag in ihrem Wesen, sich nicht einfügen zu wollen. Nicht den Platz einzunehmen, den andere ihr zuwiesen.
Als Sophia sechs geworden war, hatte sie zu schwimmen begonnen. Es gab niemanden, der auf den Gedanken gekommen wäre, ihr das beizubringen, also sah sie anderen dabei zu und ahmte dieBewegungen nach. Vom Schwimmen zum Tauchen war es dann nur noch ein kleiner Schritt.
»Das tun Mädchen nicht«, belehrte ihre Mutter sie.
»Feine Mädchen erst recht nicht«, fügte Anna hinzu.
»Warum nicht?«, fragte Sophia.
»Nur einfache Leute schwimmen«, erklärte Mechthild von Laurin, »und du bist kein einfaches Mädchen. Du bist die Tochter eines Fürsten. Wenn du schwimmst und tauchst, machst du dich mit dem Gesinde gemein.«
»Ist das schlimm?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil man dir dann nicht mehr mit Achtung begegnet.«
Eine Weile hielt Sophia sich daraufhin vom Wasser fern. Sie wollte ihren Eltern eine gute Tochter sein. Allerdings raubte ihr diese Selbstbeschränkung bald die Luft zum Atmen.
Sie musste ihr Wesen verleugnen und Freude an Dingen zu verspüren vorgeben, die sie überhaupt nicht empfand. Wenn sie jedoch tauchte, drang Sophia in die Welt der annähernden Lautlosigkeit vor, sie glitt in eine neue Dimension, und die alltägliche Welt versank über ihr in wohltuender Stummheit. Niemand rief sie hier, niemand störte die Ruhe, niemand mahnte sie. Unter Wasser konnte Sophia sie selbst sein, fernab der Verpflichtungen des täglichen Verstellens.
Das war für sie etwas so Wunderbares, dass der angeblich damit verbundene Makel, sich mit dem einfachen Volk gemeinzumachen, dagegen verblasste. Außerdem betrachteten die Menschen auf der Burg Laurin sie wegen der Dinge, die sie manchmal von sich gab, ohnehin mit Skepsis. Sophia bekam sehr früh das Gefühl vermittelt, dass sie inmitten aller anderen doch ausgestoßen war. Dass sie nicht dazugehörte.
Selbstverständlich entging ihr keineswegs die Liebe, die ihre Eltern und auch Anna ihr entgegenbrachten. Mechthild wiegte sie in den Schlaf, wenn Albträume sie plagten – da war sie schon zehn. Sigimund wetterte gegen ihre Schwimm- und Tauchausflüge – aus Sorge, denn sie spürte seinen heimlichen Stolz darüber. Und für Anna war sie die engste Vertraute, noch vor der Mutter.
Diese eindeutigen Fingerzeige der Dazugehörigkeit vermochten in ihrer Gesamtheit aber nicht das Gefühl der Aussonderung auszugleichen.
Erst als sie diese akzeptierte, spürte Sophia, dass sie endlich mit sich im Reinen war.
An diesem Punkt angelangt, hatte sie zwei Seelenverwandte entdeckt – Giselbert und Isenhart. Giselbert war wie sie ein Außenseiter. Und zwar von Berufs wegen. Demgegenüber war Isenhart ihr um eine Spur verwandter. Er stand außerhalb, weil er sein Leben mehr und mehr nach dem ausrichtete, was sein Geist ihm befahl. Und nicht nach dem, was man von ihm erwartete. In gewissem Sinne war er ebenso frei wie sie.
Diese Erkenntnis ließ sie erschaudern.
»Warum zeichnest du Flügel?«, fragte sie. Die Abendsonne fiel im tiefen Winkel auf das Wasser, die Reflexion blendete sie kurz.
Isenhart, der den Sand noch immer nach Würmern durchkämmte, hielt inne.
»Hunger«, krächzte Gweg, der auf den nächsten Wurm wartete.
»Du hast genug«, beschied Isenhart den Kolkraben.
Der legte den Kopf nach links, dann nach rechts, ohne Isenhart dabei aus den Augen zu lassen.
» Ge-nug «, fügte Isenhart hinzu. Umgehend meinte er, in den Augen des Vogels einen Ansatz von Empörung lesen zu können, was er sogleich als Einbildung bewertete. Gweg war das intelligenteste Tier, das ihm je begegnet war, trotzdem glaubte er nicht, dass ein Rabe fähig war, Empörung zu empfinden.
Gweg stieß ein helles Krächzen aus, vollführte drei, vier Schritte in Richtung Fluss, breitete die Flügel aus und stieß sich von der Erde ab. Mit ein paar Schlägen fuhr er empor und glitt, allein die Thermik ausnutzend, deren Existenz Isenhart im Ansatz bewusst war, zurück zur anderen Seite.
Sophia und Isenhart sahen ihm nach, gleichermaßen fasziniert von der Leichtigkeit und Eleganz seines Fluges.
»Warum zeichnest du Flügel?«, wiederholte Sophia und riss ihn damit aus seiner Betrachtung.
Isenhart sah sie an, als wäge er ab, was er Sophia anvertrauenkonnte – und was nicht. »Ich will verstehen, warum Vögel fliegen können.«
Sophia erwiderte seinen Blick und ahnte, dass das nur die halbe
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