Isenhart
sich unzweifelhaft gleich vor ihnen auftun würde, gerieten Isenhart und Konrad das erste Mal seit ihrem kindlichen Messen in allerlei Disziplinen wie Wettlauf oder Bäume-Hochklettern körperlich ernstlich aneinander. Konrad hatte die Armbrust erhoben und Isenhart sie heruntergedrückt. Das brachte sie einander so nahe, dass sie sich nicht mehr in beide Augen blicken konnten, sondern abwechselnd das linke und das rechte Auge anvisieren mussten, um nicht zu schielen.
Zwar war Isenhart aus exakter Beobachtung bewusst, dass es sich leichter gestaltete, eine aufstrebende Kraft nach unten zu drücken, als sich gegen eine hinabstrebende durchzusetzen, weshalb der Vorteil im Grunde bei ihm liegen musste. Auf der anderen Seite hatte sich aus dem Jungen mit dem breiten Kreuz ein Kraftpaket von Mann entwickelt, dessen Muskeln genug Energie aufzubringen vermochten, um sich gegen Isenhart und die Physik durchzusetzen.
Und so kam es auch. Konrad legte so viel Kraft in die Bewegung des Hochreißens der Armbrust, dass er damit nicht nur den Griff des Freundes sprengte, sondern ihn auch gleich ins Straucheln brachte.
»Schieß«, rief der Geistliche, »es ist ein Vogel des Teufels!«
»Wir wissen das nicht«, versuchte Isenhart zu besänftigen, während er sich langsam wieder fing.
Konrad legte das Ende der Armbrust zwischen Kinn und rechte Schulter.
»Wenn du den Bolzen nach ihm jagst«, sagte Isenhart leise, »werde ich gehen.«
Konrad zögerte. Er war der Herr von Heiligster, er entstammte einer adligen Blutlinie – was machte es wohl für einen Eindruck, wenn er sich von einem Schmied vorschreiben ließ, ob er einenRaben töten durfte oder nicht? Wenn er nachgab, konnte er unmöglich noch Herr sein.
Außerdem war an Hieronymus’ Worten vielleicht etwas dran. Ein schwarzer Vogel, der das Wort »Amen« artikulierte, konnte nicht von dieser Welt sein.
Wenn du den Bolzen nach ihm jagst, werde ich gehen.
Hatte der Satan in Vogelgestalt möglicherweise schon Isenharts Verstand angegriffen? Ging von Gweg ein dunkler Zauber aus, der in seinem Freund das erste Opfer gefunden hatte? Und musste er nicht schon deshalb im Sinne ihrer Freundschaft den Kolkraben mit dem Bolzen in zwei Stücke schießen?
»Amen«, krächzte Gweg und beäugte sie von seinem scheinbar sicheren Standort aus.
Werde ich gehen.
Konrad kannte Isenhart lange genug, um diese drei Worte so zu verstehen, wie sie gemeint waren. Er würde nicht nur gehen, er würde sie verlassen. Und keinesfalls zurückkehren. Mit nur einer Bewegung seines Zeigefingers, die den Bolzen auf seine todbringende Bahn schicken würde, konnte Konrad alles, was die Zukunft für sie beide bereithielt, hier und jetzt auslöschen, ja, er konnte ihre Freundschaft für den Rest ihres Lebens zerstören.
Oder sich mit dem Dasein dieses Vogels arrangieren, an dem Isenhart offenbar so viel lag. Die Wahl fiel ihm leicht. Doch bevor er dazu kam, die Armbrust zu senken, bückte sich seine Schwester, ergriff einen Stein und schleuderte ihn nach Gweg, der sich mit einem anklagenden Krächzen vom Ast erhob und im Dunkel der Nacht verschwand.
Nach und nach arrangierten sich alle in Heiligster mit der Anwesenheit des Kolkraben, dem Isenhart zunächst abgewöhnen musste, auf ihren Köpfen zu landen und ihre Wimpern zu bearbeiten.
Gweg erlernte auf Anhieb knapp zwanzig Wörter, ein Repertoire, das er mit Isenharts Hilfe schließlich auf fünfunddreißig erweiterte. Der Rabe erwies sich als außerordentlich gelehrsam und geradezu wissbegierig. Für Isenhart wurde Gweg zuerst ein Studienobjekt – und erst dann so etwas wie ein Gefährte, wenn man diesen Ausdruck für einen Vogel überhaupt gelten lassen wollte.
Jedenfalls gehörte er irgendwann dazu. Heiligster ohne Gweg wäre nicht Heiligster gewesen.
Im zweiten Winter, als Isenhart und Konrad durch das schneebedeckte Unterholz auf der Suche nach Reisig stapften, kam der Rabe angeflogen und setzte sich auf einen Ast in ihrer Nähe. Um dort ein Mordsgeschrei zu veranstalten. Konrad schleuderte einen Stock nach ihm, der Gweg zwar verfehlte, ihn aber veranlasste, sich ein paar Fuß höher einen neuen Platz zu suchen.
Dort ließ er sich nach vorne fallen, hielt sich mit den Krallen aber am Holz fest, sodass er kopfüber baumelte und mit seinem Geschrei fortfuhr.
Konrads Gesicht verlor seine gesunde Färbung. Er deutete auf Gweg. »Ist das vielleicht normal?«, fragte er Isenhart vorwurfsvoll.
»Nein«, erwiderte der. Auch er hatte noch nie einen
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