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Isenhart

Isenhart

Titel: Isenhart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Karsten Schmidt
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auf den Hüter der Puente.«
    »Das seid dann wohl Ihr«, vermutete Konrad.
    »Der Sturz vom Pferd hat Eurem Kopf nicht geschadet«, erwiderte Baba.
    »Kanntet Ihr meinen Vater?«, wollte Isenhart wissen.
    Hinter der Tür erschloss sich ein weiterer Platz, der innere Burgfried, wie man es hier nannte.
    »Nein. Richtig gekannt habe ich ihn nicht«, antwortete Baba. Ein leises, kaum wahrnehmbares Bedauern schwang da mit. »Er verschwand, bevor man mir die Sicherheit der Puente anvertraut hat«, fügte er hinzu.
    »Er verschwand? Einfach so?«, fragte Isenhart.
    »Nein, er tötete meinen Vorgänger. Sonst ginge ich heute nicht neben Euch.«
    Langsam erhob sich ein fernes, ganz unwirkliches Wispern. Es wehte zu ihnen hinüber, und sie waren dankbar für jede Brise, die etwas von der Hitze nahm. Das Wispern veränderte sich mit jedem weiteren Schritt, den sie unternahmen. Es wurde lauter, dann mehrzüngig, aber es brachte keine Abkühlung.
    Nachdem sie erneut eine Biegung hinter sich gebracht hatten, entdeckte Isenhart den Ursprung dieses Wisperns. Es stammte aus einem kleinen, zum Teil überdachten Hof. In der Mehrzahl saßen etwas ältere Männer hier oder standen in kleinen Trauben beieinander. Sie alle sprachen unentwegt, und ihre Stimmen stiegen im warmen Wind auf, vermengten sich miteinander in der Gluthitze. Sie wurden eins und zu jenem Wispern, das durch die Ritzen der Festung kroch.
    Juden, Araber und Christen tauschten sich aus. Baba führte seine beiden neuen Besucher direkt an ihnen vorbei.
    »Die Ekliptik des Mars ist stabil«, sagte ein Jude.
    »Nehmt diesen Stock«, trug ein Christ nur wenige Fuß weiter seine Erkenntnisse vor, »mit ihm und diesem anderen, genau bemessenen Stück Holz könnt ihr die Höhe eines fremden Gebildes bestimmen.«
    Isenharts Schritte verlangsamten sich, sein Verstand seziertedas Wispern in seine einzelnen Bestandteile. Die Kombination aus Hölzern, die der Mann hier vorführte, war die exakte Entsprechung jener, die Isenhart für Walter entwickelt hatte. Zumindest war das mathematische Prinzip dasselbe: Auch hier wurde aus zwei bekannten Zahlen eine bis dahin unbekannte Größe errechnet. In diesem Fall die Höhe.
    »Nun, was ist Zeit«, fragte ein Muslim nur einige Schritte entfernt, »angenommen, unsere Erde wäre leer, würde Zeit dann überhaupt vergehen? Ist Zeit etwas, was nur im Zusammenhang mit Menschen existiert?«
    »Aristoteles sagte«, erwiderte ein anderer Muslim, »Zeit ist die Zahl der Bewegungen zwischen dem Früher und dem Später.«
    »Aber sie ist auch ein Kontinuum, definiert durch den Augenblick«, fügte ein jüdischer Gelehrter hinzu, »der Augenblick ist die Brücke zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, der Augenblick garantiert die Sukzession der Zeit. Und die Anhäufung der Augenblicke ist das, was Aristoteles mit der ›Zahl der Bewegungen‹ ausdrücken wollte.«
    Ein Räuspern mischte sich in Isenharts Wahrnehmung. Da es von keinem auszugehen schien, der in seinem Blickfeld stand, drehte er sich um. Es war Baba, der zusammen mit Konrad in der gleißenden Sonne stand und auf ihn wartete.
    »Entschuldigt«, beeilte Isenhart sich zu sagen, »es war nur … nur gerade so interessant.«
    »Die meisten schreckt das Geschwätz ab«, stellte Baba fest, um nun den Weg zu Ibn Khamud fortzusetzen.
    Konrad nickte unwillkürlich. In seinen Augen waren es Gedankenspielereien, im besten Fall so sinnvoll wie ein abendlicher Sonnenstrahl, der einen erwärmte, im schlechtesten Fall so dienlich wie ein Mückenstich, der unentwegt juckte und den man immerzu kratzen zu müssen glaubte. Letztlich waren all diese Überlegungen ohne einen konkreten Nutzen. Sie fällten kein Holz und brachten kein Heer zu Fall, sie wandelten sich nicht in Speisen oder Trank, sie hielten nur sich selbst auf Trab. Kurz: Sie waren eine lästige Zeitverschwendung. Sicherlich eine, der Isenhart mit Hingabe frönte, aber wer unter Gottes Antlitz war schon ohne Fehl?
    »Was ist das?«, fragte Isenhart und deutete mit dem Kopf inRichtung der Debattierenden. Sein Herz schlug ihm vor Aufregung bis zum Hals.
    »Das da«, meinte Baba beiläufig, »das ist eine Zusammenkunft unter Gleichgesinnten. Sie alle treibt ihr Streben nach Erkenntnis hierher. Was Ihr seht, ist der Basar des Wissens. «
    »Der Basar des Wissens«, wiederholte Isenhart beinahe feierlich und warf noch einmal einen Blick zurück zu jenen Männern, die im Schutze der Puente ihre Gedanken austauschten. Er spürte ein ehrliches und

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