Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Isenhart

Isenhart

Titel: Isenhart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Karsten Schmidt
Vom Netzwerk:
einen richtigen Gedanken nur konsequent zu Ende denken müssen. Das Bedürfnis des Täters. Waren sie alle zunächst davon ausgegangen, einen Wahnsinnigen zur Strecke bringen zu wollen, schien schließlich die Geschichte des Menschenfressers Michael von Bremen einen Sinn zu ergeben, zumal Walther von der höchst unwahrscheinlichen Gesundung von Bremens bei Doryläum berichtet hatte. Er aß eben Herzen, weil er glaubte, sie verliehen ihm Kraft. Und wer weiß … niemand hat bisher das Gegenteil bewiesen.
    Doch die Schriften, auf die sie bei Michael von Bremen gestoßen waren, die anatomischen Zeichnungen, die möglicherweise auf dasGenie eines von Bremens verwiesen, sie verwiesen auch auf das, was nicht auf dem Pergament stand: den Sinn dahinter. Wie hatten sie nur übersehen können, dass die Neugier eines Geistes, der in der Lage war, solche Zeichnungen zu fertigen, lediglich auf das Offensichtliche beschränkt war, nämlich die Gestalt und Funktion der Organe?
    »Sie nahmen an, dass das Herz der Sitz der Seele ist«, sagte Isenhart. Es war keine Vermutung, er wusste um das Zwingende der Logik.
    »Genau so war es«, bestätigte Ibn Khamud.
    »Aber das war nur eine Annahme«, fuhr Isenhart fort und musste achtgeben, dass seine Gedanken nicht seinem Mund davonliefen, »und für den Wissensdurstigen ist Erkenntnis die einzige Erfrischung. Die gedankliche Erkenntnis war aber nicht belegt. Dazu hätte man … hätte man einen Menschen töten und sein Herz öffnen müssen. Einer von beiden war dazu bereit: mein Vater. Sydal von Friedberg. Und Euer Herr hat sich dem verweigert. War es nicht so?«
    »Das ist richtig«, antwortete Ibn Khamud mit einer Stimme, die von Erstaunen geprägt war, »Ibn Al-Hariq gab sich damit zufrieden, dass es Fragen gibt, die keine Antwort erfahren werden. Oder dürfen. Euer Vater war nicht zu überzeugen. Mein Herr sah keine andere Möglichkeit, um Unschuldige zu schützen, als Sydal von Friedberg unter Arrest zu stellen. Aber Sydal kam ihm zuvor und tötete Babas Vorgänger, um aus der Puente zu fliehen.«
    »Mein Vater hat nach seiner Rückkehr auf deutschen Boden Jungfrauen ermordet und ihnen das Herz genommen«, stellte Isenhart fest, »er wollte die Seele finden. Das war der Grund.«
    »Ja.«
    Konrad von Laurin hatte immer gebannter gelauscht. Auch für ihn fügte sich nun langsam eines zum anderen, die Dinge standen nicht mehr für sich, Isenharts und Ibn Khamuds Worte spannen feine Seile zwischen ihnen, bis sie alle so miteinander verbunden und verwoben waren, als hätte der vorherige Zustand nie existiert.
    »Ein Seelensammler«, fügte der Blinde hinzu, »so hat er sich selbst genannt.«
    Konrad überkam bei diesen Worten ein leichter Schauer, während Isenhart sich noch mehr zu Ibn Khamud vorbeugte.
    Seelensammler, das stieß Isenhart in demselben Maße ab, in dem es ihn faszinierte. »Hat Ibn Al-Hariq seine Forschungen über den Sitz der Seele weiter vorangetrieben?«
    Der Blinde deutete ein Kopfschütteln an: »Er hat nie wieder darüber gesprochen. Für Euren Vater und meinen Herrn war es auch eine Debatte um das Ich, um das Wesen des Menschen. Darüber, ob er bestimmt wird oder selbst bestimmt. Aber wie ich höre, wurde das Herz als Hort der Seele inzwischen abgelöst.«
    »Wodurch?«, fragte Konrad.
    Ibn Khamud antwortete nicht sofort, denn ein Diener, so wie er selbst einer gewesen war, stellte eine Tasse mit dampfendem Wasser vor ihm ab. In dem erhitzten Wasser schwammen ein paar kleine Blätter.
    »Mein Herr hatte es schon geahnt. Die letzten Aufzeichnungen, die ich mit eigenen Augen sehen konnte, kreisten um ebendiese. Seht, Isenhart, wir können beide einander in die Augen schauen, und wenn wir vergessen, dass Allah mich mit Blindheit geschlagen hat um meiner Sünden willen, dann würden wir in den Augen des anderen das Wahrste sehen, was der andere mit sich trägt. Sein Wesen. Das Ich. Ibn Al-Hariq hat die Augen als Fenster der Seele bezeichnet.«
    Isenhart verstand. Hinter den Augen verbarg der Körper die Seele. Wer auch immer im Reich gemordet hatte, Michael von Bremen, ein Draugr oder ein ganz anderer, sie alle hatten keinen Zugang zum Wissen der Puente. Zu dem Wissen, das sich hier überschnitt.
    Walther von Ascisberg hatte Isenhart einmal von zwei Meeren erzählt, die hoch oben im Norden, wo das Land endete, aufeinandertrafen. Ein ewiger Wellenkamm, das Zeichen ihrer Vereinigung, der sich vom Ufer bis zum Horizont zog, dieses Bild traf auch für das Innere der

Weitere Kostenlose Bücher