Isenhart
auslösen. Nicht so bei Isenhart. Mit dem Zögern eines Mannes, der tiefen Respekt empfand, trat er näher. Seine Augen glitten über die Körperteile, über die Zeichnungen und Schriften, über die Hand, die vertikal in zwei Hälften geteilt worden war und deren Teile nun in einer harzigen Substanz im Holztrog schwammen. Fasziniert vergegenwärtigte Isenhart sich den Aufbau der Hand, die Knochen, die Handplatte, die Fingerglieder, umschlossen von Muskeln, Fett, Sehnen. Er sah auf. Die dazugehörige Zeichnung war die Studie zweier Zustände, nämlich der einer offenen und der einer geballten Hand. Feine Linien gaben die Sehnen wieder und die Kontraktion der Muskeln, die es dem Menschen erlaubten, die Hand zu einer Faust zu ballen.
Der Urheber dieser Illustration war zweifellos Henning von der Braake. Er hatte dem Schöpfer über die Schulter und in die Karten geblickt. Und seine Beobachtungen auf Pergament festgehalten.
Für Isenhart war es der erste Blick in die Funktionsweise der menschlichen Hand, deren filigraner Aufbau und die damit einhergehende Verletzlichkeit ihn aufs Tiefste erstaunten. Einen Teil dieser komplexen Schöpfung hatte Bischof Otto II . von Henneberg ihm und Henning abtrennen lassen.
Von Henneberg war am 3. März des letzten Jahres verstorben, ein außergewöhnlich warmer, heller Tag für diese Jahreszeit. Es hielten sich Gerüchte, die besagten, der Bischof sei an seinem entzündeten Darm zugrunde gegangen.
Isenharts Blick wanderte von einem Schatz zum nächsten, von Erkenntnis zu Erkenntnis. Stufen, die Hennings Geist erklommen, und die er hier für jeden, der bereit war, ihm zu folgen, ausgelegt hatte.
Neben den anatomischen Skizzen fanden sich auch Zeichnungen über den Aufbau von Flügeln, über die physikalischen Kräfte des Ober- und Unterwindes, die sie mithilfe des Rauchs und seiner Verteilung im Wind in Heiligster bestimmt und als ausreichendstark berechnet hatten, sie samt ihrem Nurflügler beim Sprung vom Knorrigen Alten wie in einer himmlischen Sänfte zu tragen – welch ein fataler Irrtum.
Aus weiteren Aufzeichnungen entnahm Isenhart, dass Hennings Gedanken wie die seinen in alle Richtungen davonstoben. Medizin und Physik, Astronomie und Astrologie, Alchemie und Kräuterkunde, Exegese und Übersetzungen.
Wie lange, fragte Isenhart sich, mochte Henning wohl schlafen? Drei Stunden oder vier? Mehr als fünf gestattete Isenhart sich selbst nicht, die Lebenszeit war zu begrenzt und zu wertvoll, um sie mit Schlafen zu vergeuden. Dabei verachtete Isenhart das Schlafen nicht. Zwar war es bar jeden Beweises, aber es war offensichtlich, dass der Schlaf dem Körper als Erholung diente. Zu gerne hätte Isenhart aber einen Weg gefunden, dem Körper die nötige Erholung zuteilwerden zu lassen, ohne dass sich sein Geist den Gesetzen des Leiblichen beugen müsste. Was für ein Gewinn wäre das: den Geist ungehindert schweifen zu lassen, während der Körper ruhte!
Henning stand außerhalb seiner Zeit, daran bestand kein Zweifel. All die Pergamente und akribisch sezierten Organe bezeugten dies. Er gehörte nicht hierher, nicht an den Anfang des 13. Jahrhunderts, sein Platz war hundert Jahre in der Zukunft; vielleicht sogar das doppelte Maß.
In einer Zukunft, in die auch Isenhart sich gewünscht hatte. Endlich befreit von den Fesseln seiner Zeit.
Er schritt die Werkbank weiter ab und inspizierte den Unterarm genauer. Henning hatte ihm ein Viertel der Länge nach entnommen, sodass sich dem Betrachter vom Hand- bis zum Ellbogengelenk freie Sicht bis zum Mittelpunkt von Elle und Speiche ergab. Der anatomische Aufbau war damit für jedermann klar ersichtlich. Es wirkten keine geheimnisvollen Kräfte im Unterarm, alles war einem Zusammenspiel aus Gelenken, Knochen, Muskeln und Sehnen geschuldet.
Bis auf eine nicht ganz unwesentliche Kleinigkeit, wie Isenhart feststellte. Er sah sich noch einmal im Gewölbe um. Keines der Leichenpräparate konnte den Ansatz einer Erklärung liefern, wie es einst zum Leben erweckt worden war. Wann und warum also das Herz seinen ersten Schlag getan hatte.
Der göttliche Funke? War das, was Henning offengelegt hatte, die Ahnung von der göttlichen Mathematik? Kurz verneigte er sich vor der Erhabenheit dieser Antwort, die eine Erklärung zu bieten schien. Bis er begriff, dass sie keine beinhaltete. Die Antwort war nur ein Schein, dessen göttlicher Glanz seine Unwissenheit überstrahlte, nichts weiter.
Die Wahrheit war: Sie wussten es nicht. Sie konnten
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