Isenhart
Offensichtlichkeit, die keiner Nachfrage bedurfte, »er hat sie in sich aufgenommen. Und wenn man dich heute richtet, dann nehme ich deine Seele zu mir, Isenhart.« Damit ließ er sie zurück, seine Fußtritte, mit denen er die groben Steinstufen nach oben nahm, wurden immer leiser.
Henning würde sie nicht befreien, so viel war gewiss. Daher zog Isenhart das Stück Fels wieder aus der Wand und machte sich daran, mit den Tonscherben, von denen eine nach der anderen in seinen Händen zerbrach, den Zugang zu dem unterirdischen Kanal zu vergrößern.
Offensichtlich, zu dem Schluss kamen Konrad und Isenhart, waren Henning und Wilbrand ein Zweckbündnis eingegangen, bei dem der eine im Zuge seiner Forschung über Aufbau und Mechanismus des menschlichen Körpers den Sitz der Seele untersuchte, während der andere, der ihm dafür Schutz und Diskretion gewährte, sie atmete. Und nicht nur das: Wilbrand bestimmte auch die Opfer, allesamt Jungfrauen, zumindest Unbefleckte, wenn man den Mönch aus Spira mit einbezog. Der Abt richtete sich dabei nach dem Grad ihrer Reinheit, den Ibn Al-Hariq und Isenharts Vater als Kriterium für den Wert der Seele bestimmt hatten.
»Er hat zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen«, stellte Konrad fest. Und führte auf Isenharts Nachfrage aus, dass er damit nicht Henning meinte, sondern Wilbrand von Mulenbrunnen. Was immer er auch mit dem Einatmen der Seele bezwecken mochte – ihnen beiden erschien alleine das als monströs –, Wilbrand hatte Anna auch als Mittel zum Zweck benutzt. Er hatte es auf die einträglichen Weinberge abgesehen, die das Haus Laurin besaß. Eine Rebe, die landauf und landab geschätzt und verschifft und gehandelt wurde, ein sicheres Einkommen also.
Wie viele Jahre mochte er wohl auf einen Missgriff des Fürsten von Laurin gehofft haben? Ein kleiner Fehltritt nur, eine marginale Unachtsamkeit, die ihm zum Vorwand gereichen konnte. Doch Sigimund von Laurin hatte sich diese Unachtsamkeit nicht erlaubt. Vielleicht war er ohne Tadel gewesen, vielleicht auch nur vorsichtig, weil er Wilbrand durchschaut und achtgegeben hatte, ihm nicht den erwünschten Vorwand zu liefern.
So, dachte Konrad sich, musste es sich zugetragen haben. Er hatte Anna von Günther von der Braake ermorden lassen und ihn beauftragt, ihm etwas Persönliches von der Fürstentochter mitzubringen – natürlich in der Absicht, dieses Alexander von Westheim im Zuge eines Tauschhandels zukommen zu lassen. Ganz so, wie der fahrende Händler es berichtet hatte.
Der Abt hatte auf Sigimunds Integrität gesetzt, die es ihm nicht erlauben würde, den Mann einfach hinzurichten, bevor er diesem einen Hinweis nicht nachgegangen war.
Genau so war es gekommen. Von Laurin hatte ihn in Mulenbrunnen aufgesucht, ließ sich aber zu nichts provozieren, was Wilbrand in die Lage versetzt hätte, eine Fehde vom Zaun zu brechen, die durch den Kaiser gedeckt war. Zum Glück, so hatte es damals dem Abt erscheinen müssen, machte die Hitzigkeit von Sigimunds Sprössling dem Vater einen Strich durch die Rechnung und spielte damit dem Herrn von Mulenbrunnen in die Hände. Der Forderung, seinen Sohn einem Gericht zu überlassen, wusste Wilbrand, würde der Fürst von Laurin niemals nachkommen. So war der Boden bereitet gewesen, um sich rechtmäßig in den Besitz der Weinberge zu bringen.
Ein großes Stück Fels gab nach, und bevor Isenhart es aus der Wand lösen konnte, fiel es in die künstliche Röhre, mit der jemand die Burg mit Frischwasser versorgt hatte.
»Jetzt ist es breit genug«, ließ er Konrad wissen, der nicht sofort antwortete. Isenhart griff in das schwarze, sich windende Band. Das Wasser war sehr kalt, es füllte den Querschnitt des in den Fels gehauenen Kanals komplett aus, was wiederum bedeutete, dass er nicht hoffen konnte, unterwegs eine Stelle zum Atmen zu finden.
»Was ist, wenn der Kanal sich verjüngt? Wenn du stecken bleibst?«, drang Konrads Stimme herüber.
Isenhart musste bei dieser Vorstellung unwillkürlich schlucken. Aber ganz gleich, welche weiteren Argumente Konrad im Gewand einer Frage vorbringen sollte, er würde ihn nicht abhalten. Die Antwort auf die Frage, ob er in den Kanal eintauchen sollte oder nicht, gestaltete sich in mathematischer Schlichtheit. Zu bleiben bedeutete zu sterben.
»Ich kann immer noch zurück«, tröstete er Konrad und wusste es doch besser. Gegen die Strömung an den Ausgangspunkt zurückzukehren, dazu würde ihm im Ernstfall die Kraft fehlen.
Isenhart tauchte
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