Isenhart
Halsschlagader von Sydals Sohn schwoll an und pochte dicht unter der Haut, seine Stimme erhob sich: »Walther von Ascisberg war ein Gewinn für die Welt. Gerade für die, die dir vorschwebt. Was ist das für eine Welt, um derentwillen man einen freien Denker, einen wehrlosen, alten Mann erschlagen muss, Henning? Was maßt du dir an?« Die letzten fünf Worte brüllte Isenhart seinem Gegenüber ins Gesicht.
Die Finte gibt dir die Gelegenheit für den entscheidenden Hieb.
Genau an diese Worte Sigimunds erinnerte Isenhart sich. Sigimund und der junge Konrad hatten einander im Burghof gegenübergestanden. Der Vater führte den Sohn in die Kunst der Täuschung im Kampf ein.
»Ist Fintieren nicht feige?«, fragte Konrad seinen Vater.
»Nein. Aber die Stumpfsinnigen fürchten es, denn es ist die Waffe der Klugen«, hatte Sigimund erwidert.
Isenhart ließ die linke Hand vorschnellen, um mit dem Griff nach Hennings Schwert die Finte zu eröffnen, die zu der erwarteten Reaktion führte, nämlich dem Ausweichschritt nach hinten und dem Wegdrehen des Schwertes, was Henning von der Braakes Kopf exakt in die Position brachte, in der Isenharts Rechte, die in einem weiten, schwer zu erahnenden Haken kam, ihn mit voller Wucht an der Schläfe traf und taumeln ließ.
Ein Feind, der ein Schwert führt, hat nur noch eine Hand frei.
Getreu diesem Motto setzte Isenhart nach, nutzte das Taumelnaus und vollführte dieselbe Finte noch einmal. Henning, von dem ersten Schlag gegen seine Schläfe bereits etwas benommen, hatte den beiden Fausthieben, die ihn abermals seitlich am Kopf trafen, nichts entgegenzusetzen.
Er fiel gegen den Eichentisch, der zu schwanken begann, und von dort zu Boden. Das einbalsamierte Auge rollte nach vorne und plumpste neben Henning zu Boden, dem Isenhart das Schwert aus der Hand riss, es wendete und die Spitze gegen den Hals des Liegenden presste.
Ihrer beider Atem ging jetzt schnell, aus Isenharts Blick hatte sich jegliche Zugewandtheit verflüchtigt. »Wilbrand von Mulenbrunnen«, stieß er hervor, »wozu will er die Seelen?«
Hennings Verblüffung zeichnete sich so schlagartig auf seinem Gesicht ab, dass sie unmöglich vorgetäuscht sein konnte. Es schien, als hätte der junge von der Braake Isenhart mehr Assoziationsvermögen zugetraut.
»Begreifst du denn nicht?«, fragte er daher.
»Er will die Seelen«, stellte Isenhart fest, »er … sammelt sie.«
»Ja, ein Seelensammler«, bestätigte Henning.
»Aber wozu? Was verspricht er sich davon, sie einzuatmen? Glaubt er, etwas vom Wesen der Toten zu sich nehmen zu können?«
Henning sah sich trotz seiner misslichen Lage zu einem Schmunzeln veranlasst. »Es geht um das Wesen der Seele«, sagte er.
Im gleichen Augenblick begriff Isenhart, weshalb Henning, dem er nach wie vor die Klinge gegen den Hals presste, ihn mit einem verwunderten Lächeln bedachte. Die Antwort war mehr als naheliegend, denn das Wesen der Seele wurde von dem dominiert, was die Menschen über sie dachten. Niemand hatte je so etwas wie eine Seele zu Gesicht bekommen, ein unsichtbares Geistwesen, das im Körper eines jeden nistete und unerkannt davonstob, sobald die körperliche Heimstatt zerstört wurde, und doch waren alle überzeugt von ihrer Existenz.
Weil sie das Grauen der Endlichkeit nimmt und jenen in die Hände spielt, die genau das verkünden, wie Walther von Ascisberg einmal gesagt hatte, was die Frage aufwirft, ob die Seele tatsächlich ist oder nur von jenen erfunden wurde, die daraus einen Vorteil ziehen.
Weil sie das Grauen der Endlichkeit nimmt, hallte es jetzt in Isenharts Kopf wider. Und damit präsentierte die Logik das Wesen der Seele, denn es musste das Gegenteil der Endlichkeit sein. »Unsterblichkeit«, flüsterte Isenhart daher.
Henning nickte: »Der älteste Traum, den Menschen träumen. Unbefristetes Leben.«
Deshalb hatten sie den Abt von Mulenbrunnen inmitten all jener Medici angetroffen, die den Todkranken in der Puente helfen wollten. Wilbrand spendete vielleicht ein tröstendes Wort oder auch einen Händedruck, doch war er nicht gekommen, zu geben, sondern zu nehmen. Isenhart erinnerte sich noch sehr genau daran, wie Wilbrands Kopf über dem eines sterbenden Kindes verharrt hatte. Wie der Eindruck entstanden war, er spreche dem Kind Mut zu – während Wilbrand das Wohl des Kindes in Wahrheit einerlei gewesen war und er nur bei ihm gesessen hatte, um die unbefleckte Seele nicht zu verpassen, die sich auf dem Sprung befand.
»Er will die
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