Isenhart
in der Rechten hielt, dessen Spitze zum Boden gerichtet war, nicht kommen hören. Ohne eine Waffe war er chancenlos. Henning blickte zu der kleinen Wasserlache, die sich zu Isenharts Füßen gebildet hatte, dann zu der Tränke. Er muss mich nicht fragen, wie ich mich befreien konnte, dachte Isenhart, er kombiniert richtig.
»Nur einen Zeitpunkt«, fuhr Henning von der Braake ruhig fort, »an dem sie austritt.«
Isenhart nickte: »Wenn sie den Körper abstreift, ja. Aber dafür reicht es, auf den Tod zu warten, man muss ihn nicht selbst herbeiführen.«
Hennings Augen verengten sich eine Spur.
»Viele vernichtete Leben für ein erfülltes – dein Leben«, ergänzte Isenhart.
»Quantität ist eine flüchtige Geliebte, zweischneidig, wenn man so will«, erwiderte Henning und trat dabei in das Gewölbe ein, während seine wachsamen Augen auf Isenhart ruhten: »Ich kann sie ebenso gut gegen dich verwenden, ich muss sogar. Einige zerstörte Leben für viele gerettete. Denk an all die Krankheiten.«
»Was soll damit sein?«
»Wenn Verbote uns nicht daran hindern würden, Tote zu sezieren, könnten wir Krankheiten bekämpfen, besiegen möglicherweise. Wir wären in der Lage, Schmerzen zu lindern, Isenhart. Weil wir Zusammenhänge entdecken könnten. Was ist denn Gleichgültigkeit im Angesicht der Schmerzen anderer Menschen anderes als pure Barbarei?« Henning legte den Kopf ein wenig schief, als würde sich dadurch auf Isenharts Gesicht ein anderer Ausdruck einstellen. »Ist es nicht Barbarei?«, hakte er nach, und sein Bauchgefühl, aufdas Isenhart mit zunehmendem Alter zu hören begann, falls sein Kopf zu langsam war – was zwar selten vorkam, hier und jetzt aber schon –, ließ ihm mit einem Nicken zustimmen.
Über Hennings Mund huschte ein kurzes Lächeln. »Vielleicht könnten wir sogar mehr als das«, sagte er, »mehr als nur Schmerzen lindern und die Ursachen von Krankheiten finden. Vielleicht könnten wir am Ende sogar dem Tod eine Weile trotzen.«
Isenhart sah ihm in die Augen und stellte fest, dass es keineswegs eine fixe Idee war, die Henning durch den Kopf ging.
»Was könnte ein Mann wie Sydal von Friedberg in der doppelten oder gar dreifachen Spanne seines Lebens erreichen? Ist es nicht ungerecht, dass dem Einfältigsten unter der Sonne genauso viel Zeit im Diesseits vergönnt ist wie deinem Vater? Wo der eine den fruchtbaren Acker aus Dummheit verkommen lässt, fährt der andere Ernten von seltener Reichhaltigkeit ein. Sag mir: Worin liegt da der Sinn?«
Isenhart schluckte. In der Tat war dies ein bestechender Gedanke. Mit der doppelten Spanne an Leben könnte er vielleicht eines Tages zu denen vorstoßen, die nicht mehr Gefangene ihrer Umstände waren. Möglicherweise nicht nur frei sein im Denken, sondern auch im Handeln. Ein Basar des Wissens, der sich nicht im fernen Iberien hinter wuchtigen arabischen Mauern vor den Blicken der Welt verstecken musste.
»In der Vielfalt«, erwiderte Isenhart, »gibt es auch das schwache Element. Aber ohne das Schwache wäre das Starke nicht stark, sondern lediglich ein Faktum ohne Bezug.«
Henning war über die Schnelligkeit der Antwort ein wenig konsterniert.
»Den Schwachen zu töten, damit der Starke vorankommt? Den Dummen zu opfern für die Erkenntnis des Klugen? Führt das nicht zu dem, wovon du gesprochen hast? Barbarei? «, fragte Isenhart, dem die Kälte des Wassers in den Leib kroch.
Hennings Augenbrauen schossen in die Höhe vor Empörung. »Du sprichst«, brachte er zornig hervor, »von Moral, ja?«
Isenhart deutete ein Nicken an, das von seinem Gegenüber erwidert wurde. »Wenn wir nicht einige opfern, dann ist das, als hätten wir die Tausende getötet, denen wir nicht helfen können,weil wir die wenigen verschont haben. Was ist das für eine Moral, Isenhart?« Henning kam näher, das Schwert immer noch in der Hand. »Wir könnten einen Bund schmieden zum Wohle aller.«
In den Augen und dem ganzen Gestus des früheren Freundes lag ein Flehen, das Henning sich nicht mehr zu unterdrücken bemühte.
»Und hast du auch jeden Einzelnen gefragt, ob er sich zum Wohl der vielen opfern möchte? Oder hast du einfach deinen Drang nach Erkenntnis als wichtiger erachtet?«
Henning spürte, wie er an Boden verlor. Wie sein Werben infrage gestellt wurde, als sei es etwas Schmutziges.
»Und zählst du dabei auch die mit, die du ungefragt aus dem Leben reißt? Dem eigenen und dem Leben anderer? Anna von Laurin? Walther von Ascisberg?« Die
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