Isenhart
weder sich noch anderen erklären, weshalb ein Herz zu schlagen begann, wie ein Mensch entstand, doch ihre Unwissenheit war kein Beweis für einen göttlichen Funken, der seine Finger im Spiel gehabt hätte. Der Mangel an einer Antwort war nur das, was er war, nämlich der Mangel an einer Antwort, nicht mehr und nicht weniger. Wahrscheinlich würde ihre Lebensspanne nicht ausreichen, um diesen Mangel wettzumachen. Aber dann würde es die nächste Generation tun. Und wenn auch sie nicht, die darauffolgende. Irgendjemand würde es tun.
Und die Antworten, da war Isenhart sich sicher, würden neue Fragen aufwerfen, die es zu lösen galt, dies war der Weg des Fortschritts, wie das Wort schon beinhaltete – Fort- Schritt und nicht Fort- Stand –, denn der Zustand absoluter Perfektion, nämlich alle Antworten zu wissen, bedeutete Stillstand und damit Stagnation, womit der allwissende Herrgott per definitionem die Krone der Lethargie auf dem gelangweilten Haupt tragen musste.
Und trotzdem strebten Menschen wie Henning oder Walther oder er selbst genau diesem Zustand voller Ungeduld entgegen. Das nennt man ein Paradoxon, erinnerte Isenhart sich an die Worte seines Mentors. Der Gedanke an Walther presste ihm das Herz zusammen. Er vermisste den alten Mann, das silbrige Haar, das heitere Lächeln, das um die zuletzt verbliebenen drei Zähne tanzte. Isenhart fehlte sein vertrauter Händedruck.
Was hätte Walther von Ascisberg in seiner Situation getan?
Mit Sicherheit hätte er keine wertvolle Zeit mit hochtrabenden Gedanken verplempert, gestand Isenhart sich ein. Der Duft der Myrrhe hing schwer im Raum. Myrrhe. Harz.
Das war es, was Isenhart in der Kammer in Weinsberg gelesen hatte, bevor Simon von Hainfeld ihn dabei überrascht hatte. Myrrhe und Harz.
Isenhart kehrte zu dem Auge zurück und unterzog es einer genauen Betrachtung, die seine Vermutung bestätigte, insbesondere, als er feststellte, dass Henning alle Präparate mit Myrrhe behandelt hatte. Die harzige Substanz war von einer Transparenz, die dem Betrachter den unverstellten Blick auf die Organe gewährte, während er sie gleichzeitig in ihrer Gänze umschloss und auf diese Weise vor der Luft versiegelte.
Und damit vor der Fäulnis, schloss Isenhart, während er sich zwar sträubte, aber dennoch Bewunderung für die Anwendung dieser Technik spürte. Natürlich, keine seiner Errungenschaften durfte der junge von der Braake öffentlich machen. Die Wissenschaft durfte nicht unter der Sonne arbeiten, wo man ihr den Garaus gemacht hätte, sie musste im Geheimen operieren. Unter der Erde, vom Tageslicht ausgesperrt, hier konnte sie sich absurderweise freier entfalten.
Forum scientiae. Während er in der Puente unter freiem Himmel tagte, Stunde um Stunde, war Henning gezwungen, dem Basar in diesem Gewölbe die Zuflucht zu gewähren.
Refugium scientiae.
Auch das passte, wie Isenhart mit einem Schlag gewahr wurde. Er stand hier inmitten einer Gruft, in der Henning seine Erkenntnisse konservierte für eine bessere Zeit, in der ihr Überbringer den Tod nicht mehr fürchten musste. In diesem Gewölbe sollte sein Wissen die Ära des Glaubens überdauern, um jenen, die es nicht verteufelten, sondern zu würdigen wussten, zum Vorteil zu gereichen.
Er stand mitten in Hennings Vermächtnis.
Isenhart wandte sich zum Durchlass zur Rechten. Die Dringlichkeit seiner Mission gestattete ihm diesen Zeitverzug eigentlich nicht, doch seine Neugier siegte. Er trat in den kleinen Nebenraum, der von nicht weniger als zwanzig Kerzen erhellt wurde. Seine tiefe Decke verriet, dass er dem Fels nachträglich abgetrotzt worden war. Er wurde von einem Tisch dominiert, auf dem die Überreste einer Leiche lagen. Dem Kopf fehlten die Ohren, ein Auge und die Lippen. Außerdem war der linke Unterarm in Höhe des Gelenks amputiert worden.
Ein Schwarm von Fliegen, die trotz des fehlenden Sonnenlichts den Weg hierher gefunden hatten, stieg auf. Das Rauschen desWassers hatte das dutzendfache Surren ihrer kleinen Flügel übertönt. Der Tote war ein Mann gewesen. Das graue Haar, das ihm aus dem geöffneten Schädel spross, gab Isenhart einen Anhaltspunkt seines Alters. Wie jener Kreuzritter in der Siedlung nördlich von Toledo, den die Gänseadler seiner Lippen beraubt hatten, trug auch dieser Leichnam ein groteskes Grinsen im Gesicht.
»Es gibt nur einen Zeitpunkt, der uns einen Blick auf die Seele erlaubt.«
Isenhart wirbelte herum. Er hatte Henning, der im Durchlass verharrte und ein Schwert
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