Isenhart
Laurin fest, »Wilbrand von Mulenbrunnen ist ein Seelensammler. Aber getötet hat er nicht selbst – das hat der da übernommen. Henning von der Braake. Die beiden sind durch einen Pakt miteinander verbunden. Ihr habt selbst gesehen, welchen Vorteil von der Braake daraus zieht. Ihr habt es unten im Gewölbe mit eigenen Augen gesehen. Er schändet Leichen.«
»In der Tat, das habe ich gesehen«, gab von Scharfenberg nachdenklich und betrübt zu. Wobei Isenhart zu sehen meinte, dass der Spiraer Bischof die Betrübtheit, die er für jeden offensichtlich an den Tag legte, nicht unbedingt empfand.
»Nichts davon hat mit mir zu tun«, wandte Wilbrand ein, »nichts davon war mir bekannt. Bis heute.«
Jetzt hob Henning von der Braake zum ersten Mal den Blick.Und der galt dem Abt. Seine Enttäuschung ob dieser Worte war unübersehbar.
»Seelensammler«, sagte der Bischof leise, »ein absurder Vorwurf, mein lieber Wilbrand, nicht wahr?«
Von Mulenbrunnen reagierte nicht sofort.
»Nicht wahr?«, insistierte Konrad III . von Scharfenberg. Dieses Mal aber war es keine Frage mehr von Bischof zu Abt, dieses Mal stellte sie der Richter einem Verdächtigen. Und jetzt begriff Isenhart, dass seine Intuition ihn nicht getäuscht hatte. Was auch immer der Bischof zu Spira mit seinem Auftritt hier, mit dem Vorsitz über das Gericht, bewirken wollte – er räumte ihnen eine Chance ein. Die Chance, sich zu erklären und die Angelegenheit ins rechte Licht zu rücken. Das alles vor einem Publikum, das jede Voreingenommenheit in die Welt tragen würde. Ja, der Bischof hatte sich Zeugen ausgesetzt, vor denen ihm jeder willkürliche Akt teuer zu stehen kommen würde. Aber warum, fragte sich Isenhart. Dummheit? Wohl kaum. Unachtsamkeit? Dazu agierte der Mann, der das Bistum Spira leitete, viel zu umsichtig. Also blieb nur noch eines: Absicht.
Was wiederum im Einklang zu der Art und Weise stand, mit der Konrad III . von Scharfenberg diese Verhandlung führte. Da war Isenhart sich nun sicher. Welchen Zweck der Bischof mit seinem Vorgehen verfolgte, blieb allerdings auch ihm unerklärlich.
»Natürlich ist es nicht wahr«, erwiderte Wilbrand von Mulenbrunnen, »Seelensammler. Was soll denn das sein? Das ist das Gerede von zwei Todgeweihten, die ihren Kopf retten wollen. Und – sollte ihnen das nicht gelingen – bleibt ihr Bemühen, so viele Unbescholtene mit ins Verderben zu reißen wie möglich.«
»Natürlich«, lenkte von Scharfenberg ein und lächelte sogar ein wenig, »Seelensammler. So etwas ist mir noch nie zu Ohren gedrungen.«
»Absurd«, bekräftigte der Abt.
»Ganz recht«, pflichtete der Bischof ihm bei, »ganz recht.«
Er nickte sich selbst dabei zu, ganz so, als wolle er sich dadurch der Richtigkeit seiner Einschätzung vergewissern. Um dann erneut den Blick auf Isenhart zu richten.
»All das hat seine Geschichte«, sagte dieser ruhig, »all das hatseinen Ursprung im Zweiten Kreuzzug. In der Schlacht von Doryläum. Und es hat damit zu tun, dass ich der Sohn von Sydal von Friedberg bin.«
»Erzählt«, forderte Konrad III . von Scharfenberg ihn auf, »erzählt mir alles. «
Isenhart nickte. Wenn sie, Konrad und er, dem Tod geweiht waren, machte es ohnehin keinen Unterschied mehr.
Anna von Laurin, die Liebe seiner Jugend, Konrads und Sophias Schwester, ab diesem Punkt waren Isenhart und Konrad Teil der Geschichte geworden. Niemand unterbrach Isenhart, die Stille der anderen war vollkommen. Und wenn Wilbrand das Wort zu erheben versuchte, hob Konrad III . von Scharfenberg nur ein wenig die Hand, um diese Erzählung, die mit der Kreuzung vierer Lebenswege in der Schlacht von Doryläum begonnen hatte, ungestört zu Ende zu hören.
Isenhart ließ nichts aus. Er erklärte die Ohrfeige, die der Abt von Mulenbrunnen erlitten hatte, als günstigen Vorwand, um sich der Ländereien derer von Laurin zu bemächtigen, verschwieg nicht, dass man mit Alexander von Westheim den falschen Mann vom Leben zum Tode befördert hatte, und wie er Jahre später in Spira erneut die Spur aufnahm. In dem Glauben natürlich, einen Schlächter zu jagen, einen Wahnsinnigen, der Jungfrauen meuchelte und ihnen das Herz aus dem Leib riss.
Bei dieser Schilderung ertönte hier und da ein Hüsteln aus dem Gesinde, einige schnappten nach Luft.
Isenhart legte die Symbiose offen, die Henning von der Braake und der Abt eingegangen waren. Auf der einen Seite ein Mann, der so im Diesseits gefangen war – obwohl ein Vertreter Gottes auf Erden,
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