Isenhart
der mit allerhöchster Freude dem Jenseits zustreben sollte, wo er mit dem ewigen Paradies rechnen konnte –, dass er durch das Einatmen der Seelen sein Alter in die Höhe zu treiben versuchte, auf der anderen Seite ein Suchender. Einer, der mit der Suche nach Antworten all sein Handeln legitimierte. Einer, den das Warum trieb, der tiefe Grund, auf dem alles fußte. Und ihn zu bahnbrechenden Antworten und zu scheußlichsten Verbrechen führte. Was letzten Endes in jene Forschungsergebnisse mündete,die der Bischof von Spira mit eigenen Augen in den Gewölben der Burg gesehen hatte.
Das Gesinde war kaum merklich von Henning von der Braake abgerückt. Der Bischof ließ den letzten Satz Isenharts nachhallen. Er wandte sich zu Wilbrand von Mulenbrunnen um, der seinem Blick auswich. »Wilbrand«, richtete er leise, aber bestimmt das Wort an den Abt, »man hat schwere Vorwürfe gegen Euch erhoben. Ich nehme an, nein, ich hoffe, sie entbehren jeglicher Grundlage.«
»Natürlich tun sie das«, erwiderte der Angesprochene mit nur unzureichend unterdrücktem Zorn.
»Obschon es ein interessanter Gedanke ist«, fuhr Konrad III . fort.
Der Abt sah ihn an. »Was für ein Gedanke?«
»Seelen zu atmen. Die Seelen der Toten. Wie alt seid Ihr?«
»Das tut nichts zur Sache.«
»Natürlich, Ihr habt recht.« Der Bischof nickte, als habe er sich aufs Eis locken lassen und sei soeben eines Besseren belehrt worden. »Sagt es mir trotzdem.«
Die vier Worte gingen wie ein Peitschenschlag auf Wilbrand nieder, er zuckte wegen ihrer Unvorhersehbarkeit zusammen.
»Achtundsechzig«, half Isenhart aus.
Ein Raunen ging durch das versammelte Gesinde. Alles starrte erstaunt auf den Mann in der Kutte der Zisterzienser. Achtundsechzig, las Isenhart den Knechten, Mägden und Leibeigenen an der Nasenspitze ab, ein Alter, dem Wilbrand von Mulenbrunnen in keinerlei Hinsicht entsprach. Sein Geist war von Wachheit geprägt, seine Bewegungen die eines Fünfzigjährigen, und die Falten und Runzeln hielten sich in Grenzen. Wenn dieser Mann achtundsechzig Lenze zählte, hatte der Herrgott ihn reich beschenkt.
»Stimmt das?«, wollte der Bischof von Spira wissen.
»Ich kenne das Jahr meiner Geburt nicht«, entgegnete Wilbrand bestimmt.
Davon abgesehen war jedem, der die Replik Konrads III . gehört hatte, klar, dass der christliche Gedanke Abt und Bischof keineswegs einte, wie es zunächst den Anschein hatte – und damit stand das Urteil, das von Scharfenberg über sie verhängen würde, noch keineswegs fest, begriff Isenhart.
»Was sich in den Gewölben dieser Burg abspielt, der Ihr vorsteht«, führte von Scharfenberg fort, »davon hattet Ihr sicherlich keine Kenntnis.«
Die beißende Ironie dieser Feststellung konnte Wilbrand von Mulenbrunnen nicht entgangen sein. Der Abt zögerte mit seiner Antwort, die eindeutig und endgültig darüber Aufschluss geben würde, aus welchem Stoff die Bande zwischen Henning und ihm gemacht war. »Meine kirchlichen Pflichten machen meine Anwesenheit im Kloster Mulenbrunnen unverzichtbar«, sagte er dann und mied dabei den Blickkontakt mit von der Braake, »hierher komme ich nur höchst selten. Und mein Weg hat mich bisher noch nie in die Gewölbe geführt.«
»Das würdet Ihr auch jederzeit beeiden«, vermutete der Bischof.
»Das würde ich.«
»Dann tut es jetzt. « Die Schnelligkeit, mit der Konrad III . von Scharfenberg den Eid einforderte, ließ erahnen, dass er Wilbrand von Mulenbrunnen nun an dem Punkt hatte, den er von vornherein angesteuert hatte.
»Ja, jemand muss mir die Heilige Schrift halten und …«
»Lasst den Firlefanz und schwört«, wies von Scharfenberg ihn an.
Isenhart meinte Wilbrand ansehen zu können, wie sich in dessen Kopf die Gedanken überschlugen in ihrem Versuch herauszufinden, welche Absicht der Bischof verfolgte. Denn nur dann war es auch möglich, aus der Falle, in die er offenbar getappt war, noch einmal mit heiler Haut davonzukommen.
»Ich schwöre, dass ich keine Kenntnis davon hatte, was sich unten in den Gewölben abspielt.«
Konrad III . von Scharfenberg schaute bei diesem Eid nicht etwa zum Abt, sondern er musterte sehr aufmerksam das Gesicht Hennings, der seine Züge zwar im Griff zu haben schien, doch die Verbitterung in seinen Augen verriet seinen wahren Gemütszustand.
Hinter ihm, im Schatten einer Säule, stand unbeweglich die hünenhafte Gestalt Simon von Hainfelds, der keine Miene verzog. Der Schatten ließ ihn und die dunkle Steinwand miteinander
Weitere Kostenlose Bücher