Isis
die Bilder ein.
Soldaten kriechen durch einen Tunnel und ergießen sich als todbringende Flut über die Stadt ... Frauen flüchten kreischend ... dazwischen die Leiber von Toten und Verwundeten ... Eine Gebärende auf einem zerwühlten Laken, die weint und stöhnt ... Ruza, vorwärts hastend, ein Kind auf ihrem Rücken, das sterben muss, wenn sie es nicht weit genug fortbringt ... Krokodile, die einen schmalen Nachen bedrohen ... Das gierige Gesicht eines Mannes, der einen verbotenen Schatz heimlich ausgräbt .
Meret fuhr hoch. In der alles umfassenden Stille war nur das laute Schlagen ihres Herzens zu hören.
Ein Mann mit wutverzerrtem Gesicht, der eine Frau niederschlägt ... Die röchelnd stirbt, einen Namen auf den Lippen, Merets Namen ... Ein kleiner Junge, der zu viel Angst hat, um laut zu weinen .
»Mama!«, rief sie in das feindliche Dunkel, das sie auf einmal zu verschlingen drohte. »Mama!« Der Druck um ihre Brust verstärkte sich. Meret hatte das Gefühl, als hinderten sie eiserne Reifen am Atmen. Sie würgte und hustete und bekam so viel Speichel in den Mund, dass sie befürchtete zu ersticken.
Eine Frau und ein kleines Mädchen am Tempeltor ... Sannas Gesicht, das sich freundlich über sie beugt ... Die bunten Säulen ihres Zauberwaldes ... Das vertraute Geräusch der Töpferscheibe ... Dann jedoch Kreischen und Prusten, verächtliches Lachen ... Finger, die heimlich auf sie zeigen ... Sie ist nicht wie wir, ein Krüppel, weder Fleisch noch Fisch ... Wir jagen sie . Sie darf nicht entkommen .
»Warum?«, schrie sie schmerzerfüllt auf. »Warum ich?«
Das freundliche Flüstern von vorhin war längst verstummt.
Die Steinwände verweigerten jegliche Antwort. Sie ließ sich zurück auf die harte Unterlage sinken. Täuschte sie sich, oder schlossen sich die Wände des Sarkophags auf einmal enger um sie? Jeder Atemzug schien kostbar, denn jetzt fühlte sie sich oben und unten von kaltem Fels umfangen. Stricke wanden sich um den Sarg. Der Deckel wurde mit flüssigem Blei versiegelt. Damit war jeder Versuch zu entkommen vereitelt.
Obwohl Meret kein Glied mehr rühren konnte, wusste sie doch genau, wer diese Schandtat begangen hatte: die Komplizen des eifersüchtigen Gottes Seth, die sie mitsamt dem Sarkophag kopfüber in den Nil warfen und stromabwärts treiben ließen, obwohl er doch aus Stein war und eigentlich sofort hätte untergehen müssen. Sie trieb dem Meer entgegen, genau so wie sie es in den alten Geschichten Dutzende Male gehört hatte ...
Irgendwann wurde der Sarg an Land geschwemmt und geöffnet. Grobe Hände machten sich an dem leblosen Körper zu schaffen. Meret spürte, wie ihr Leib in Stücke gerissen wurde, die achtlos verteilt wurden. Tränen flossen aus ihren Augen, aber sie weinte nicht um sich, sondern um Osiris, dessen Tod auch das Sterben des ganzen Landes bedeutete.
Plötzlich schwebte sie als Vogel über dem großen Fluss und sah unter sich, wie die Göttin Isis weinend die Leichenteile ihres Geliebten im Uferschilf zusammenlas. Jede Stelle, an der sie eines der verstreuten Körperteile fand, erklärte sie zum heiligen Ort. Schließlich war alles vollständig - bis auf das Glied des Osiris, das die Fische aufgefressen hatten. Mit ihren Händen bildete Isis es aus Pflanzen, Blumen und Knochen nach. Stark und groß richtete es sich auf.
Zu Merets Erstaunen verwandelte die Göttin sich in ein Sperberweibchen und ließ sich direkt über dem Glied nieder. Das Land lag nicht länger brach, um den Tod des Osiris zu betrauern, sondern erwachte zu neuem, fruchtbarem Leben: Getreide begann zu sprießen, Setzlinge schossen aus dem schwarzen Boden empor, Ähren wiegten sich im warmen Wind. Meret spürte das unbändige Wachsen im eigenen Leib, der sich dehnte und weitete, als sollte er den Himmel umfassen. Die Dunkelheit war flirrendem blauem Licht gewichen, das sie einhüllte. Es gab keinen Menschen mehr, kein Tier, keinen Stein - sondern nur noch einen einzigen, jubelnden Tanz glänzender Spiralen, untrennbar miteinander verbunden.
Aus weiter Entfernung sah sie ein kleines Geschöpf in einem steinernen Sarg liegen und begriff nicht gleich, dass es ihr eigener Körper war, den sie betrachtete. Er schien ihr fremd, allerdings nicht viel fremder als sonst, wenn sie ihn im Dunkel der Nacht verstohlen betastete, um herauszufinden, wer sie wirklich war.
War das der Tod? Fühlte sich so das Sterben an? Es war gleichgültig, vollkommen gleichgültig, denn die großen, ewigen Wirbel trugen
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