Isis
Vaters führte.
Die Tür stand einen Spalt offen. Ein winziger Stoß genügte — und er hatte die verbotene Schwelle übertreten. Wenig schien sich inzwischen verändert zu haben, wenngleich er von seinem Lauschposten auf dem Dach nicht jedes Detail hatte sehen können: das breite Bett mit den zerwühlten Decken, die halb leeren Becher, eine Gerte, wie man sie für Kamelrennen verwendete.
Er wog die Peitsche in seiner Hand, bevor er neugierig weiterging. Ein strenger, leicht säuerlicher Geruch hing in der Luft, überlagert von schalem, schwerem Parfüm. Die Morgendämmerung sandte das erste Licht durch das Fenster.
Es beleuchtete eine kleine Statue, die auf einem Hocker stand und ihm zunächst nicht aufgefallen war. Khay stutzte, weil ihm die Frau mit den ausgebreiteten Schwingen selbst aus einiger Entfernung bekannt vorkam. Als er sie aufhob und ans Fenster hielt, um ganz sicher zu gehen, erkannte er, dass er sich nicht getäuscht hatte. Es war eine geflügelte Isis-Statue, die sein Vater neben dem Bett stehen hatte.
Und sie trug ganz unverwechselbar Selenes feine Züge.
oooo
»Da, sieh doch nur! Ich habe mich nicht getäuscht.« Anu hatte den ganzen Tisch in Nesptahs Zimmer leergeräumt, um ausreichend Platz für die Kartenabschrift und das Fundstück zu haben, die er nun nebeneinander legte. »Da, diese Anhöhe. Und dort das Felsenstück. Alles passt genau zusammen. Es handelt sich um ein und denselben Ort. Irrtum ausgeschlossen!«
»Aber hier sind keine Grabeingänge eingezeichnet.« Nesptah deutete auf die fleckige Kopie.
»Hier jedoch, auf dem Papyrusfetzen, sehr wohl!« Anus Augen leuchteten. »Das kann nur eines bedeuten: Woran wir uns bisher orientiert haben, das waren gar nicht die wirklichen Pläne der Nekropole. Damit kannten wir auch nicht die tatsächlichen Eingänge zu den Grabkammern. Kein Wunder, dass die Verbrecher stets entwischen konnten!«
»Ich lasse das Original holen. Ich will sehen, ob es auch passt.«
Als die alte Karte aus dem Tempelbesitz gebracht wurde, rollten sie sie auf, um die entsprechende Stelle mit dem Fundstück zu vergleichen. Alles stimmte überein, nur die Linien, die die Grabeingänge markierten, fehlten.
»Moment, Moment!« Nesptah kräuselte die Stirn. »Das würde ja heißen, dass die Räuber die richtigen Pläne besitzen, wir dagegen nicht.«
Anu nickte eifrig.
»Und wie sollen sie an die gekommen sein?«
»Das ist erst die zweite Frage, um die wir uns kümmern sollten. Zunächst geht es doch darum, ob der Tempel nicht ebenfalls ein Exemplar der richtigen Pläne besitzt.«
»Offenbar nicht«, sagte Nesptah. »Und mit dem Abzeichnen hatte wohl alles seine Richtigkeit. Unsere Kopie ist in jedem Detail zuverlässig.«
»Und dennoch fehlen die Grabeingänge. Hier muss irgendwo der Schlüssel zu dem Geheimnis liegen.« Anu tippte auf den Papyrus. »Wir sind der Lösung ganz nah, das kann ich genau spüren. Vielleicht sogar zu nah, um sie zu erkennen.«
»Mir gefällt dein Eifer«, sagte der junge Priester lächelnd, »und dass du nicht aufgibst.«
»Aufgeben? Niemals!«, sagte Anu und sandte ein stummes Dankgebet an die Ama, die ihn diese Weisheit gelehrt hatte.
»Im Gegenteil, je schwieriger es wird, desto mehr reizt es mich. Außerdem liebe ich alles, was mit Papyrus und Tinte zu tun hat.«
»Ich bin sicher, du wirst es noch weit bringen«, sagte Nesptah. »Es sei denn, du stirbst bereits in jungen Jahren einen schrecklichen Hungertod. Mein Magen knurrt jedenfalls schon seit Stunden. Deiner etwa nicht?«
»Doch, etwas zu essen könnte ich gut vertragen. Und Durst habe ich auch!«
Eine Dienerin brachte gebratenes Gazellenfleisch, eine Delikatesse, die Anu zum ersten Mal probierte, sowie geschmorte Nieren mit Linsengemüse. Da der Koch offenbar mit dem Salz nicht gespart hatte, schlürften die beiden jungen Männer genussvoll größere Mengen kühles Bier. Anu, der selten trank, stieg das berauschende Getränk besonders schnell zu Kopf.
»Auf Osiris!«, sagte er und erhob seinen Keramikbecher mit dem Lotosblütenmuster. »Ohne ihn würden wir jetzt auf dem Trockenen sitzen.«
»Auf Osiris und die Liebe!«, bekräftigte Nesptah. »Wir müssen sehen, dass wir irgendwann zu einem Ende kommen.
Mein kleiner Hori wartet schon auf mich.«
»Ich hätte auch gern einen Sohn«, sagte Anu mit einem Anflug von Neid. »Kinder sind das Schönste, was man sich vorstellen kann.«
»Dazu brauchst du aber erst einmal eine Frau. Sonst bleibt alles nur ein
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