Isis
reden müssen, bevor ich eine endgültige Entscheidung treffen kann. Schließlich dienen wir alle dem Unsichtbaren.«
»Ich weiß«, sagte Meret. »Und ich weiß auch, dass dieser Ort Amun geweiht ist. Mich haben bisher die Schwingen der Isis geleitet. In Ihrem Tempel bin ich aufgewachsen. Auf Ihrer Tempelinsel liegt auch die Frau begraben, die ein Leben lang Mutterstelle an mir vertreten hat.«
»Weshalb hast du Philae eigentlich verlassen? Und warst du anschließend nicht eine ganze Weile in Sunu?«
Für einen Augenblick tauchte Pachers blutverschmierte Gestalt vor Merets Augen auf, und sie spürte, wie Übelkeit in ihr hochstieg. Sie hatte ihn nicht getötet. Er hatte geatmet, als sie ihm den Armreif abgezogen hatte. Flucht schien die einzige Lösung, die ihr eingefallen war. Aber nicht nur deshalb war sie nach Waset gekommen. Pacher konnte sie immer noch mit seinem Zorn verfolgen. Und ob sie dann ein heiliger Ort vor seiner Rache schützen würde?
»Ich habe Philae verlassen, und um nach meinen Wurzeln zu suchen. Und nach meiner Familie«, erwiderte sie, ohne auf die zweite Frage einzugehen. »Ich habe sie verloren, als ich gerade laufen konnte.«
»Und du glaubst, sie ausgerechnet in Waset wieder zu finden?«
»Ich hoffe es. Es gibt ein paar Anzeichen, dass ich von hier stammen könnte. Aber es kann auch ganz anders sein.«
»Eine seltsame Antwort aus dem Mund einer Seherin, deren ungewöhnliche Fähigkeiten alle preisen«, sagte Schepenupet.
»Du bist auch selbst für mich keine Unbekannte, Meret. Dein Ruf ist bis zu uns gedrungen. >Die Augen des Nil<, so wirst du voller Respekt genannt ...«
»Das gilt nur für andere«, unterbrach Meret sie. »Mein eigenes Schicksal bleibt mir verborgen.«
»Und meines?« Furchtlos sah die »Gottesgemahlin« ihr in die Augen. »Was siehst du da, Meret?«
Die Enge in Merets Brust, die sie schon die ganze Zeit gespürt hatte, verstärkte sich. Ihre Fingerspitzen begannen zu kribbeln.
»Dafür ist weder der richtige Zeitpunkt, noch ist dies der richtige Ort«, versuchte sie auszuweichen. »Außerdem möchte ich dich nicht länger aufhalten. Vielleicht ein anderes Mal .«
»Mir war bereits zu Ohren gekommen, dass du schön sein sollst«, sagte Schepenupet ruhig. »Und klug dazu. Von beidem konnte ich mich soeben überzeugen. Allerdings war niemals die Rede davon, dass du feige bist.« Schweigend sahen sie sich an. »Rede!«, verlangte die »Gottesgemahlin«.
»Ich will wissen, was du kannst.«
»Der Tod wird auf raschen Schwingen zu dir kommen«, sagte Meret schließlich und wandte sich ab. »Du wolltest es hören.«
»Ja, das wollte ich. Und es ist keine Neuigkeit für mich. Man hat schon einmal versucht mich zu vergiften. Seit langem rechne ich mit einem zweiten Anschlag.«
»Kein Gift. Du wirst nicht durch Gift sterben.«
»Was ist es dann?«
Meret schloss die Augen. »Hass«, sagte sie langsam. »Ich sehe eine Frau mit dunklen Augen ... Sie redet nicht ... sie ist stumm ... sie bäumt sich auf, voller Schmerzen ... Dein Ende bedeutet auch ihr Ende .«
»Udjarenes«, flüsterte Schepenupet. Ihr Gesicht war fahl geworden. »Weiter!«, drängte sie. »Verheimliche mir nichts! Ich will alles wissen.«
»Das ist alles.« Meret sah sie offen an.
»Und wann? Wie viel Zeit bleibt mir noch?«
»Die Bilder sagen nichts über die Zeit — niemals!«
Schepenupets Finger fuhren in die Konfektschale, aber sie steckte sich das Zuckerwerk nicht in den Mund, sondern ließ es in ihrem Schoß liegen. Ihre Hand glitt zu ihrem Gesicht, und sie wandte sich zum Fenster, um die Tränen zu verbergen.
»Ich hätte es dir nicht sagen dürfen«, sagte Meret bedrückt. »Das weiß ich jetzt. Auch wenn du mich noch so sehr darum gebeten hättest.«
»Doch - ich musste wissen, woran ich bin«, sagte die »Gottesgemahlin«. Ihre Stimme gewann die gewohnte Festigkeit zurück. »Ich will in Frieden gehen, wenn ich schon gehen muss. Und ich will mein Haus bestellt wissen. Nicht einmal meine Feinde sollen etwas finden, woran sie ihre Bosheit wetzen können.« Sie begann zu lächeln. »Du hast mir einen großen Dienst erwiesen, Meret. Ich danke dir dafür.«
Sie stand langsam auf. »Komm mit!«, sagte sie. »Ich möchte dir etwas zeigen.«
Seite an Seite gingen sie durch die Tempelstadt, die von Meret staunend betrachtet wurde. »Alles ist so groß hier, so erhaben! Angesichts dieser mächtigen Säulen kommt mir sogar mein steinerner Wald in Philae ganz klein vor.«
»Segen und Fluch
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