Isis
öffnete Isis schwungvoll, weil sie so schmal war, dass sie sie für eine Wäschekammer gehalten hatte.
Sie wurde einer schlanken, nackten Frau gewahr, die gerade dabei war, sich einzuölen. Meret fuhr erschrocken herum.
Sie griff nach einem Kleid und presste es an ihren Körper — einen Augenblick zu spät.
Isis starrte sie fassungslos an. Dann drehte sie sich um und lief nach unten.
Es dauerte eine Weile, bis Meret nachkam. Äußerlich schien sie ruhig wie immer, wenngleich ihre Stimme leicht belegt klang.
»Gut, dass du gekommen bist, Isis. Wir müssen reden«, sagte sie.
Befangen deutete Isis auf die Statue. »Die Züge meiner Mutter. Mein Vater hat Dutzende davon gemacht. Er war ganz besessen davon. Aber als ich eines Tages nach Hause kam, hatte er alle zerschlagen. Weshalb? Ich möchte endlich die Wahrheit erfahren! Deshalb bin ich heute hier.«
Die Bilder kamen sofort, so stark und deutlich, dass Meret ein Zittern unterdrücken musste. Sie sah Verzweiflung, Hinterlist und Gewalt, eine Frau, die jede Hoffnung verloren hatte und nur noch den Tod als Ausweg wusste. Und ein kleines verlassenes Mädchen ...
»Deine Mutter hat dich sehr geliebt«, sagte sie, als ihr die Stimme wieder gehorchte. »Deshalb ist sie gestorben. Das ist die Wahrheit.«
»Das ist alles?«, sagte Isis.
»Ist das nicht genug?«, fragte die Seherin. »Es ist mehr, als viele jemals erfahren dürfen.«
Isis starrte auf die Statue. Meret senkte den Blick. Plötzlich wurde das Schweigen zwischen ihnen lastend.
»Du hättest das vorhin nicht sehen sollen«, sagte Meret schließlich. »Ich kann verstehen, wenn du jetzt verwirrt bist.«
»Du hast gesagt, ich soll kommen«, sagte Isis. »Zweimal sogar. Und als auf mein Klopfen keine Antwort kam . Wie hätte ich ahnen können.«
»Keiner weiß davon«, sagte Meret, »außer einer Priesterin, die mir sehr nahe steht, und meiner toten Ziehmutter Ruza.
Sie hat mich immer davor gewarnt, mich jemandem anzuvertrauen. Ich weiß inzwischen, wie Recht sie damit hatte.«
Meret nahm den Krug. Ihre Hand war unsicher, aber es gelang ihr trotzdem einzuschenken. »Wasser?«
Isis nahm den Becher und trank.
»Du hast eben den Namen Ruza erwähnt«, sagte sie, inzwischen schon etwas ruhiger. »Meine Mutter hat manchmal von einer Ruza gesprochen.«
»Deine Mutter? Was hat sie gesagt?«
»Dass Ruza eine tapfere Frau war. Sie lebte in Basas Haus, bis sie eines Tages spurlos verschwand. Wenn ich mich nicht täusche, war sie dort Amme. Ja, ich glaube, das hat Selene gesagt.«
Meret fiel es schwer weiterzusprechen. »Was weißt du noch von ihr?«, brachte sie schließlich heraus.
»Das ist eigentlich alles«, sagte Isis. »Vielleicht hat sie Khay gestillt. Denn als Sarit gestorben ist ...«
»Sarit? Wer war Sarit?«
»Khays und Anus Mutter. Basas Frau. Sie hat sich, so viel ich weiß, von Anus Geburt nie richtig erholt. Das war auch der Grund, weshalb wir eine ganze Zeit bei ihnen gelebt haben.
Aber ich war noch zu klein, um mich daran zu erinnern.«
Meret war sehr blass geworden. Schweiß stand auf ihrer Stirn. Die Augen waren weit geöffnet.
Ein dunkler, schmaler Kopf, schöne Hände. Eine Stimme, mal weich und zärtlich, dann wieder schroff ... »Mein Kleines, was soll nur aus dir werden? Er wird dich töten! Eines Tages wird er dich töten ...«
»Was ist mit dir?«, fragte Isis besorgt. »Bist du krank? Ich werde nichts sagen. Zu niemandem. Du kannst mir vertrauen.«
»Ich vertraue dir«, sagte Meret und schien mit ihren Gedanken von sehr weit her zu kommen. »Aber ich weiß jetzt, wer meine Mutter war: Sarit.«
»Bist du sicher? Aber das würde ja heißen, dass Khay und Anu .«
»Sie sind meine Brüder«, flüsterte Meret. »Und einer will den anderen umbringen. Die Schatten werden länger. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.« Sie packte Isis’ Hand. »Anu ist in großer Gefahr. Und du bist es ebenso, denn Khay will mit allen Mitteln eure Hochzeit verhindern. Und seinen Bruder töten. Mein Bruder will meinen Bruder töten - hast du verstanden?«
»Anu?«, sagte Isis. »Er will Anu töten?«
oooo
Pacher war mit einem Segelboot aus Sunu gekommen und suchte sich als Erstes eine Unterkunft in einer einfachen Herberge. Dies gestaltete sich schwieriger, als er zunächst gedacht hatte, weil die Stadt wegen des Opet-Festes überfüllt war. Aber schließlich hatte er einen geeigneten Schlafplatz ergattert.
Danach begann er sofort mit seinen Erkundigungen.
Seine Händlerseele führte
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