Isis
nicht meinetwillen, dann wenigstens unserer Tochter zuliebe. Wach auf, Selene!
Auf den Straßen treibt sich assyrisches Gesindel herum, das mordet und schändet. Willst du, dass unsere kleine Isis als Halbwaise aufwächst?«
Sie stritten häufig, und für gewöhnlich pflegten ihre heftigen Auseinandersetzungen in kaum minder stürmische Versöhnungen zu münden, die sie noch inniger verbanden. Dieses Mal jedoch schien keiner bereit nachzugeben.
»Ich werde Sarit nicht im Stich lassen«, beharrte sie. »Wozu habe ich sonst geholfen, Anu auf die Welt zu bringen, wenn ich ihn jetzt aus purem Egoismus verhungern lassen soll?«
»Du forderst das Schicksal heraus«, sagte Nezem düster.
»Dabei sollten wir dankbar sein, dass wir bislang so glimpflich davon gekommen sind.«
Ihr Haus war aufgebrochen und oberflächlich durchsucht worden, aber bis auf ein paar Töpfe und etwas Silberschmuck war nichts abhanden gekommen. Nur an der massiven Holztüre hatten die Plünderer ihre Wut ausgelassen. Mit aller Kraft hatte Nezem die Lanze aus ihr ziehen müssen, die als Andenken zurückgeblieben war.
»Ich bin dankbar«, versicherte Selene. »Sehr sogar. Gerade deshalb will ich ihr ja helfen. Du hast ja keine Vorstellung, was Sarit alles durchgemacht hat! Noch einen Verlust würde sie nicht überstehen. Außerdem war sie die erste Frau hier in Kernet, die freundlich zu mir war und mich nicht als Fremde behandelt hat. Auch, als ich erst ein paar Brocken eurer Sprache verstand.«
»Aber du siehst blass und müde aus«, sagte Nezem, bereits eine Spur sanfter. »Und du isst seit Tagen fast nichts. Meinst du nicht, dass du es mit der Sorge um deine Freundin übertreibst?« Er deutete in Richtung des Zimmers, in dem Isis schlief, falls sie das Geschrei nicht längst aufgeweckt hatte.
»Wir sind deine Familie. Um uns solltest du dich kümmern!«
»Glaubst du, das könnte ich jemals vergessen?«, sagte sie leise. »Unser Glück ist so groß, dass ich gern einen Preis dafür bezahle. Und wenn er darin besteht, anderes Leid ein wenig zu mindern.« Sie lächelte. »Komm schon, du alter Dickkopf, gib endlich zu, dass dir allmählich die Argumente ausgehen!«
Nezem zog sie zu sich heran. Ihre Augen waren fast auf gleicher Höhe, wenn sie sich gegenüber standen, aber sie drehte den Kopf beiseite und legte ihn auf seine Schulter. Er vergrub seine Nase in ihrem roten Haar, das ihm als Erstes aufgefallen war, als er ihr in einem Dorf im Norden Keftius begegnet war. Ihr Vater besaß dort zwei stattliche Olivenhaine, und zur Erntezeit war die ganze Verwandtschaft beschäftigt gewesen, die Früchte von den Bäumen zu pflücken. Anschließend wurden sie in die Ölpresse gebracht, die aus ihnen erst das »grüne Gold« machte, das auch im fernen Kernet äußerst begehrt war.
Zunächst noch eher schüchtern, hatte Nezem eine Weile dabei zugesehen und schließlich selbst mit Hand angelegt, angeleitet von dem alten Pandion, der allerdings mit Argusaugen verfolgte, was sich zwischen seiner Jüngsten und dem Fremden entspann. Es war das Ende einer königlichen Expedition gewesen, an der Nezem als junger Steinhauer teilgenommen hatte, mit dem Auftrag, grünlichen Serpentinit in den Bergen Keftius zu brechen und nach Kernet zu verschiffen.
Nur wenige Tage nahezu sprachlosen Glücks waren ihnen vergönnt gewesen, dann lichteten die Segler des Pharaos den Anker. Unter einem Olivenbaum hatte er Selene vor der Abreise geschworen zurückzukommen, um sie als seine Braut heimzuholen. Damals waren sie sich naturgemäß noch fremd gewesen und hatten erst nach und nach lernen müssen, aufeinander zu vertrauen. Inzwischen sprach sie seine Sprache wie eine Einheimische. Und dennoch gab es noch immer diese Unsicherheit in ihm, ob sie ihn auch wirklich verstand.
»Es gibt so viele Gefahren«, sagte er. »Ich habe Angst um dich.«
»Ich verspreche dir, besonders vorsichtig zu sein.«
»Vor allem mag ich nicht, wie dieser Basa dich ansieht.
Er spielt sich als Eroberer auf, aber in Wirklichkeit hat er Angst vor Frauen. Das sind in meinen Augen die gefährlichsten Männer. Denn Angst und Hass sind Zwillinge.« Sie streichelte seine Wange. Er stieß einen langen Seufzer aus und presste sie enger an sich. »Sieht aus, als könnte ich mir meine Worte sparen. Du wirst ohnehin wieder einmal deinen Kopf durchsetzen. Aber ich verlange, dass du meine Einwände wenigstens zur Kenntnis nimmst.«
»Aber das tue ich ja.« Selene löste sich sanft aus der Umarmung und zog
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