Isis
er auch danach suchte, er konnte sie nirgendwo finden.
»Das ist Anu, dein Brüderchen«, sagte auch Selene ein paar Tage später. »Siehst du, wie klein er noch ist? Willst du ihn einmal streicheln?«
Sie nahm seine Hand, um sie an das Gesicht des Säuglings zu führen, Khay aber riss sich los. Viel mehr als das winzige Wesen interessierte ihn das größere Kind, das neben dem Säugling lag. Seinen Kopf bedeckte dunkles Haar, das ihn an das weiche Fell eines kleinen Hundes erinnerte, und die Augen waren sehr hell. Um den Hals trug es eine Kette mit durchsichtigen goldenen Steinen. Es lächelte ihn an und entblößte dabei zwei winzige Zähne im Unterkiefer.
»Ibib«, sagte Khay spontan, weil er es so hübsch und lustig fand. »Ibib?«
»Isis heißt sie«, verbesserte ihn Selene lächelnd, »und sie ist meine kleine Tochter. Ich habe ihr eine Bernsteinkette umgebunden, damit sie weniger Schmerzen beim Zahnen hat. So eine hast du auch getragen, als du noch klein warst. Magst du Isis? Ich glaube, dein Bruder mag sie auch. Ihr drei werdet schon bald ganz wunderbar miteinander spielen. Wirst sehen, wie schnell die beiden wachsen! Du musst nur noch ein bisschen Geduld haben.«
Khay verzog seinen Mund. Es gefiel ihm nicht, dass die beiden Kinder nebeneinander in der Wiege lagen, während er allein davor stand. Er streckte seine Arme nach Selene aus.
»Khay auch«, sagte er und sah sie fest an, weil er herausgefunden hatte, dass auf diese Weise seine Wünsche am schnellsten erfüllt wurden. »Isis!«
»Das würde dir so passen!« Selene lachte, machte aber keinerlei Anstalten, ihn in die Wiege zu legen. »Dafür bist du doch wirklich schon viel zu groß!« Der Säugling begann zu wimmern. »Und Hunger hat er auch schon wieder.« Sie gab Khay einen freundlichen Schubs. »Lauf schnell zu Neshet und lass dir ein Stück Honigkuchen geben! Ich habe jetzt anderes zu tun.«
Es blieb ihm nichts anders übrig, als zu gehorchen, das hatte er aus ihrem Ton herausgehört, der keinerlei Widerrede zuließ. Überhaupt sprach sie ganz anders mit ihm als Mama, die immer leicht abwesend schien, oder Neshet, die er kein bisschen ernst nahm, auch wenn sie noch so zeterte. Langsam ging er hinaus in den Garten. Es war so drückend heiß, dass die Luft zu flirren schien.
Plötzlich begann er zu weinen.
Und als niemand kam, um nach ihm zu sehen, verschränkte er seine rundlichen Arme vor der Brust und versuchte, sich selber zu trösten.
oooo
In den ersten Nächten im Haus ihres Bruders fand Ruza keine Ruhe. Immer wieder schreckte sie hoch, ohne zunächst zu wissen, wo sie sich befand. Erst als sie die gleichmäßigen Atemzüge des Kindes neben sich hörte, beruhigte sich das aufgeregte Klopfen ihres Herzens.
Vom Untergeschoss stieg das betäubende Aroma der frischen und getrockneten Kräuter und Gewürze empor, die ihr Bruder Pacher auf dem Markt von Sunu verkaufte.
In der quirligen Grenzstadt am ersten Katarakt war sie mit dem Kind an Land gegangen. Die Boote des Pharaos fuhren weiter stromaufwärts, und Ruza war erleichtert, als ihre Segel hinter einer Flussbiegung verschwunden waren und sie nicht länger den neugierigen Blicken der Besatzung ausgesetzt war. Außerdem hatte sie Pacher seit Jahren nicht mehr gesehen. Ein Rest von Familiensinn war an ihrer Entscheidung beteiligt, auch wenn sie sie bereits zu bereuen begann.
Da war ein neuer Glanz in seinen Augen, die schmal und hart wurden, wenn es um Preise und Profit ging, und so wortgewaltig sich ihr kleiner Bruder mit seinen Waren auf dem Markt präsentierte, so mundfaul war er innerhalb der eigenen vier Wände. Zu Ruzas Überraschung hatte er keine Frau; er lebte allein, abgesehen von einer ältlichen Dienerin, die, kaum weniger mürrisch als er, das Notwendigste für ihn verrichtete. Den Fragen der Schwester, warum er nicht verheiratet sei, obwohl er doch früher wie kaum ein anderer den Mädchen nachgestellt habe, wich er beharrlich aus.
Ruza beschloss, ihn in Ruhe zu lassen. Immerhin hatte er sie bei sich aufgenommen, wenngleich ihre Anwesenheit ihm eher lästig als willkommen schien. Auch machte er sich wenig aus dem Kind, das ängstlich seinen Kopf zwischen ihren Brüsten vergrub, wenn er ihm zu nahe kam.
Natürlich hatte sie kein Wort über Sarit und Basa verloren, ebenso wenig über Anlass und Ziel ihrer Reise und erst recht nichts über den Goldschatz, den sie Tag für Tag an einem anderen Ort im Haus versteckte, weil Pacher ihn keinesfalls finden durfte.
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