Isis
»Selene ist nicht tot, sondern nur fortgegangen. Ich weiß es ganz genau.«
Die zu Hilfe gerufenen Kollegen, die die Frau aus Keftiu an dem unverwechselbaren Schopf sofort erkannt hatten, brachten ihn schließlich dazu, seine starre Haltung zu ändern. Allerdings warf Nezem auch jetzt nur einen zerstreuten Blick auf die sterblichen Überreste, die man auf eine Bahre gebettet hatte.
»Das ist nicht Selene. Seid ihr denn alle blind geworden? Das kann doch niemals meine Frau sein! Und jetzt stört mich nicht länger! Seht ihr nicht, dass ich zu tun habe?« Unverzüglich kehrte er in die Tempelwerkstatt zurück und trieb den Meißel mit dem Fäustel so ungestüm in den harten Granit, dass gleißende Funken stoben.
Es blieb den Steinmetzen nichts anderes übrig, als Schepenupet den ungewöhnlichen Fall persönlich vorzutragen. Als sie ihren Bericht beendet hatten, verriet die sonst so gefasste Miene der »Gottesgemahlin« tiefe Anteilnahme.
»Offenbar ist Nezem nicht in der Lage, sich der Wahrheit zu stellen — noch nicht«, sagte sie. »Irgendwann wird er wieder zu sich kommen.«
Sie wies ihren neuen Oberamtmann an, einstweilen alle notwendigen Vorkehrungen für Selenes Balsamierung und eine anschließende Bestattung zu treffen. Der bienenfleißige Mann, der erst vor kurzem Harwas Amt übernommen hatte und es endlich so ausfüllte, wie sie es sich immer gewünscht hatte, kümmerte sich gewissenhaft darum, als sei die Tote aus dem Nil ein Mitglied seiner eigenen Familie gewesen.
Währenddessen arbeitete Nezem wie ein Besessener. Er war nun erst recht morgens der Erste und stets der Letzte am Abend. Allerdings ließen Tränensäcke sein Gesicht welk aussehen, und die einstmals gesunden Züge wirkten plötzlich verfallen. Er achtete nicht mehr darauf, ob sein Schurz sauber war, es war ihm gleichgültig, was er aß und trank. Nezem schien in seiner eigenen Welt zu leben, zu der sonst keiner Zutritt besaß. Die anderen Steinarbeiter wagten kaum noch, ihn anzusprechen. Falls es doch unumgänglich war, brummte er eine beliebige Antwort, um sich dann sofort wieder seiner Beschäftigung zuzuwenden. Offensichtlich, dass er nicht mehr in der Lage war, wie bisher die Arbeitsgänge in der Werkstatt zu koordinieren, geschweige denn auf Reisen zu gehen, um ausgefallene Materialien für neue Statuen und Reliefs zu beschaffen.
So blieb Schepenupet nichts anderes übrig, als einen Stellvertreter zu benennen, der den Posten des Ersten Bildhauers übernehmen sollte. Sie entschied sich schließlich für Kani, der jünger war und damit weniger erfahren, dafür aber große Ambitionen hatte, die ihn freilich nicht bei allen beliebt machten.
Als der junge Mann mit spröder Stimme die ersten Anordnungen gab, schien Nezem wie aus einem Traum zu erwachen.
»Was fällt dir ein?«, herrschte er ihn an. »Zurück zu deiner Arbeit, aber schnell! Du bist mit dem Polieren noch längst nicht fertig.«
»Das kann warten. Einstweilen bin ich dein Stellvertreter, so lange, bis du wieder einen klaren Kopf bekommst«, sagte Kani. »Von der >Gottesgemahlin< höchstpersönlich ernannt. Du wirst dich also an diesen Gedanken gewöhnen müssen.« Ungerührt fuhr er fort, die anstehenden Arbeitsschritte einzuteilen.
In Nezem flammte Wut auf. Er packte Kanis Arm, riss ihn grob zu sich herum und hieb ihm dabei seine Faust ins Gesicht.
»Mach das nie wieder!«, sagte er keuchend. »Keiner wird künftig mehr wagen, einen Nezem zu hintergehen — auch du nicht, Sohn einer läufigen Hündin!«
Kani taumelte, von der Wucht des unerwarteten Schlags getroffen, fing sich jedoch rasch wieder. Leichter und deshalb um einiges beweglicher als Nezem, wich er zunächst zurück, tänzelte jedoch schnell wieder nach vorn. Eine elegante Folge von Faustschlägen prasselte auf Nezems Gesicht und seine Brust, bis ihn schließlich ein exakt platzierter Magenschwinger auf den lehmigen Boden streckte.
Nezem kam zu sich, als jemand ihm kaltes Wasser ins Gesicht schüttete. Er setzte sich langsam auf, schüttelte ein paar Mal seinen malträtierten Schädel und schaute verdutzt umher, als sähe er Werkstatt sowie Steinarbeiter zum ersten Mal. Schließlich erhob er sich schwankend. Er packte seine Meißel, Schlägel, Bohrer und Raspeln zusammen und ging ohne ein Wort hinaus.
Isis erschrak, als ihr Vater bereits am helllichten Nachmittag nach Hause kam. Seine Lippe war aufgeplatzt, ein Schneidezahn angeschlagen. Am meisten Angst aber machte ihr sein lebloser Blick.
»Was ist
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