Isis
passiert, Papa?« Sie versuchte ihn zu umarmen, er aber schüttelte sie ab. »Bist du überfallen worden? Hast du Schmerzen?«
Nezem murmelte Unverständliches.
»So rede doch, bitte! Was ist mit dir?« Tränen standen in ihren Augen. Seitdem sie erfahren hatte, dass ihre Mutter ertrunken war, brauchte sie keinen Anlass, um loszuweinen.
»Er hat mir mein Liebstes genommen«, sagte Nezem dumpf.
»Jetzt zerstöre ich ihn - und alles, was ihm teuer ist. Liebe kennt er nicht. Also wird er Hass kennen lernen.«
»Ich verstehe dich nicht«, sagte Isis ratlos. »Wovon redest du?« Er schien sie nicht zu hören, und angesichts seines unfassbaren Schmerzes kam ihr das eigene Leid auf einmal kleiner vor. »Was hast du denn nur?«
Nezem schob sie zur Seite. »Lass mich!«, sagte er. »Ich muss zu ihnen! Die Steine rufen mich, hörst du das nicht? Weißt du, weshalb viele Sterbliche sie nicht verstehen?« Isis brachte keinen Ton heraus. »Weil unser irdisches Leben viel zu kurz ist. Nur einen winzigen Augenblick glühen wir Menschen auf, ein Funke, der sofort wieder verlischt. Sie aber sind unendlich. Meine Steine werden niemals sterben.«
Mit schleppenden Schritten ging er hinüber in seine Werkstatt. Isis hörte, wie er die Tür hinter sich verriegelte. Ein paar Momente war es still. Dann ertönte lautes, gleichmäßiges Hämmern.
Verwirrt blieb das Mädchen zurück. Sie brauchte jetzt dringend Trost und Beistand, und es gab nur einen, der dafür in Frage kam.
Isis fand ihren Freund Anu vor dem Haus des Lebens im Tempelbezirk, wo die fortgeschrittenen Schüler auf dem staubigen Boden hockten und im Schatten hoher Sykomoren ihre Schreibübungen absolvierten.
Als er Isis sah, stand er sofort auf. Er sprach kurz mit dem Lehrer, packte dann seine Utensilien sorgfältig zusammen und kam zu ihr.
»W-w-wohin wollen wir?«, fragte er. »Hinunter zum Fluss, wie immer?«
»Nicht zum Fluss«, sagte sie schnell. »Lass uns einfach ein bisschen spazieren gehen.«
Beide verspürten keine Lust zu reden, während sie durch die Gassen liefen. Es war warm, aber nicht mehr so unerträglich feucht wie im Schemu. Jetzt herrschte die trockene Hitze des Achet, die alles Kranke und Schlechte wegzubrennen schien. Schließlich blieb Anu stehen und tippte Isis vorsichtig an.
»Du bist wie aus Glas«, sagte er. »I-i-ich habe Angst, du könntest gleich zerspringen. W-w-was hast du, Isis?«
Sofort kamen wieder die Tränen. »Sie fehlt mir so sehr«, sagte sie schluchzend. »Immerfort muss ich an sie denken. Und jetzt hat auch noch mein Papa ...«
Er zog sie von der lauten Gasse in einen kleinen Park, wo es kühler war und fast menschenleer. An einen Baumstamm gelehnt, begann sie zu erzählen. Anu unterbrach sie kein einziges Mal.
»U-u-und er hat wirklich alle Statuen zerschlagen?«, fragte er, nachdem sie geendet hatte.
Ein Schatten legte sich über ihre Augen. »Keine Einzige hat er verschont. Ich glaube, die Trauer um Mama frisst ihn schier auf. Mich lässt er trotzdem nicht an sich heran. Weshalb nur, Anu? Ich bin doch sein Kind! Aber weißt du, was das Schlimmste ist? Manchmal erinnere ich mich nicht mehr genau daran, wie Mama ausgesehen hat. Ich sehe zwar ihr Gesicht vor mir, aber es ist auf einmal ganz verschwommen.
Kannst du dir das vorstellen?«
»M-m-meine Mama fehlt mir auch. S-s-sehr. Obwohl ich sie doch gar nicht gekannt habe.« Er machte eine kleine Pause.
»Du bist deiner Mutter sehr ähnlich, Isis. I-i-ich habe Selene auch lieb gehabt.«
»Es tut gut, bei dir zu sein.« Ihr Kinn zitterte, so sehr bemühte sie sich, tapfer zu sein. »Ich bin noch immer traurig, aber wenigstens nicht mehr so furchtbar allein.«
Isis zog ihre Knie schützend heran, umfasste sie mit den Armen und ließ den Kopf darauf sinken. Ihr dichtes Haar fiel nach vorn und legte den schmalen braunen Nacken frei. Dorthin schmiegte er seine Stirn.
»D-d-dein Vater ist vielleicht krank vor Trauer. A-a-aber mein Vater hasst mich«, sagte Anu leise und setzte sich wieder auf. »Das ist viel schlimmer.«
Wie gern hätte er noch länger den Kopf in ihre Nackenmulde geschmiegt! Aber er hatte das Gefühl, es war für den Augenblick genug. Mehr denn je wünschte er sich, sie beschützen zu können. Dabei vergaß er keinen Moment, dass er nur so schwach wie eine Feder war. Was konnte einer wie er, den alle verlachten, schon gegen das Böse und Gemeine ausrichten?
»Das tut er nicht«, widersprach Isis. »Das glaubst du nur.«
»D-d-doch, er hasst mich.
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