Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
darauf , anstatt über sein wahres Alter nachzudenken, das irgendwo bei unvorstellbaren sechshundert-plus Jahren liegen musste.
»Mein Großvater gehörte zu den ersten Rittern des im Mittelalter gegründeten Alcántara-Ordens.« Ich kannte den Orden nicht, aber schon der Name wirkte düster und gefährlich. Wenn nicht gar eine Spur sexy. Wie der Mann, der vor uns am Pult stand.
»Aber ich war ein frühreifer Knabe. Und einen frühreifen Knaben drängt es, seinen eigenen Weg zu gehen.« Er lachte leise und schüttelte reumütig den Kopf.
Sein schwarzes Haar war lang, wellig und so dicht, dass es zerzaust wirkte. Er glättete es flüchtig mit den Fingern und sah nun aus wie ein Rockstar, der eben lässig ein T -Shirt über den Kopf gezogen hatte. »Ich gab die kriegerische Lebensweise meiner Familie auf. Die Schlachten, nach denen ich dürstete, spielten sich in meinem Kopf ab. Ich kämpfte mit Worten und Ideen, mit Zahlen und Formeln.«
Er begann durch den Hörsaal zu schlendern. Seine Bewegungen erinnerten mich an einen Panther. Elegant und geschmeidig, aber blitzschnell zum tödlichen Prankenhieb ausholend.
»Der Mathematik gilt meine besondere Leidenschaft. Sie ist Präzision. Aber sie ist auch Poesie. Ich begab mich an den Hof von Kastilien, um Gleichgesinnte zu finden. König Peter war jung, wie ich. Und er begeisterte sich wie ich für neues Gedankengut. Schon bald ernannte man mich zum Hofmathematiker. Das war eine hohe Ehre, erteilt von einem Mann, den das Volk Pedro El Cruel nannte …«
Er schwieg und blieb stehen, vollkommen reglos und atemberaubend schön. Es war, als habe er sich in eine Marmorstatue verwandelt.
Mein Herz beschleunigte den Rhythmus. Beunruhigt fragte ich mich, ob er das Pochen hören konnte. Witterten Vampire die Furcht anderer Geschöpfe, wie es so viele Raubtiere taten? Aber betrachtete mich Master Alcántara überhaupt als Beute? Vermutlich nahm er meinen Körper und meinen Geist nur als ein schwaches Aufflackern wahr, eine Flamme, die gleich wieder erlosch.
Er erwachte aus seiner Trance, als habe er einen Schalter umgelegt, und in die dunklen Augen strömte wieder Leben. »Aber diese Geschichte erzähle ich euch ein anderes Mal. Jetzt ist die Mathematik an der Reihe.«
Sein lockerer Tonfall brachte mir zu Bewusstsein, dass ich immer noch den Atem anhielt.
»Einige von euch haben sich bereits eingehend mit den mathematischen Prinzipien befasst. Anderen dagegen dürften sie unbekannt sein. Ich bitte euch alle , den Geist nicht vor neuen Konzepten zu verschließen. Die Mathematik durchdringt alles. Den Aufbau eines Gedichts, die Form eines Blattes, eure Popmusik …«
Master Alcántara ging wieder nach vorn und lehnte sich lässig gegen das Lehrerpult. War das ein Trick von ihm, oder bildete ich mir nur ein, dass er mich mit seinem Blick durchbohrte?
Meine Wangen brannten. Warum starrte er gerade mich an, als er die Musik erwähnte? Ich hoffte, dass Gedanken lesende Vampire nur in billigen Romanen vorkamen und er tatsächlich nichts von meinem verborgenen iPod wusste.
»Ihr habt euch bis jetzt mit primitiven Techniken zum Eindringen in geschützte Räumlichkeiten und Sperrzonen vertraut gemacht – mit dem Knacken von Schlössern, dem Abhören mittels Wanzen, dem Erlernen von Hacker-Methoden. Nun würde ich gern von euch wissen, wie sich die einfachsten mathematischen Gesetze auf dem Gebiet der Spionage einsetzen lassen.«
Immer noch sah er unverwandt mich an. Es gab doch genug andere Leute im Hörsaal. Weshalb galt seine Aufmerksamkeit mir allein?
Alle anderen schwiegen. Starrten sie mich ebenfalls an? War seine Aufforderung an mich gerichtet? Ich hatte keine Ahnung, brachte es aber auch nicht über mich, den Blick von ihm abzuwenden.
»Acari Drew, nicht wahr?« Master Alcántara musterte mich unter halb gesenkten Lidern. Ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen. »Ein unkonventioneller Name, der Temperament verrät. Ich schätze Temperament. Nun, Acari Drew, kannst du oder willst du meine Frage nicht beantworten?«
Sein Blick hielt mich gefangen, als sei ich hypnotisiert.
»Yo, D!« Yasuos Stimme war ein scharfes Wispern zu meiner Linken.
Ich löste mich aus meiner Erstarrung. »Ähm, nein. Ich meine, ja. Ja, ich kann die Frage beantworten.«
Ich war ein absolutes Ass in Mathe. Aber jetzt stammelte ich, als hätte ich das kleine Einmaleins nicht drauf. Mühsam konzentrierte ich mich.
»Eine mathematische Methode zur Überwachung wäre …« Ich rutschte
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