Isle Royale - Insel des Schicksals (German Edition)
hatte schon von Feiglingen gehört, die sich auf Gewalt verlegten, um ihr Ziel zu erreichen, aber er hatte es nie aus der Sicht eines Opfers geschildert bekommen, besonders nicht von einem Opfer, das keine Ahnung hatte, dass ihm Gewalt angetan worden war. Tom stellte sich Deborah in einem eleganten Kleid vor auf einer Polsterliege und dazu die Musik der Oper, die den Saal ausfüllte. Ascot packte sie, legte ihr am Ende sogar eine Hand auf die Brust und küsste diese weichen stummen Lippen, während er die andere Hand unter die spitzenverzierten Unterröcke schob. Tom musste sich zusammenreißen, um nicht in hilfloser Wut lautstark zu fluchen.
Er merkte, dass es ihre Kräfte überstieg, auszudrücken, was genau dieser Hurensohn getan hatte. Er füllte die Lücken, die sie aussparte, weil sie nicht darüber sprechen konnte. Diese Frau war so arglos, so zart. Sie war ohne Mutter aufgewachsen, umgeben von einer Armee von Bediensteten, die katzbuckelnd jedem ihrer Wünsche nachkamen, aber ihr nie das gaben, was sie am dringendsten brauchte – ein Gefühl für sich selbst und die eigenen Grenzen. Das Wissen um das, was sie dulden konnte und was nicht.
Ascot hatte das vermutlich erkannt. Und wie die meisten Männer hatte er es zu seinem Vorteil genutzt. Sie war jung, wunderschön und unvorstellbar reich. Und sie war seine Verlobte. Ascot hatte sicherlich nichts Falsches darin gesehen, sich zu nehmen, was er als sein gutes Recht betrachtete. Tom war Männern wie Ascot in der Armee begegnet. Absolventen von West Point, die meinten, ihnen gehöre die Welt. Sie hatten ihn krank gemacht mit ihrer Art.
„Sie haben gesagt, er habe sie gestoßen“, sagte Tom. „Sie bedrängt. Hat er das auf … grobe Weise getan?“ Er war sich nicht sicher, ob er richtig mit ihr umging. Alles, was er wusste, war, dass er ihr die Wahrheit entlocken musste. Er musste ihr die Worte herausziehen, wie man das Gift nach einem Schlangenbiss aus dem Blut saugte.
Sie räusperte sich. „Er war … schnell“, brachte sie hervor. „Ich hatte eigentlich gar keine Zeit, groß nachzudenken. Mein Kopf war ganz leer, und ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. Und so habe ich nichts getan, nichts gesagt und schließlich … war es vorbei.“
Tom erwiderte nichts. Sie hatte ihm eine Abscheulichkeit beschrieben, aber sie hatte das so zurückhaltend und beherrscht getan, dass es die Ungeheuerlichkeit dessen, was ihr angetan worden war, nur noch unterstrich.
Dunkle Wut wallte in ihm auf. Er hinterfragte nicht, ob es überhaupt seine Aufgabe war, sich mit ihren Geheimnissen zu beschäftigen. Er war dafür verantwortlich, dass sie hier auf der Insel festsaß, aber nicht für das, was Philip Ascot getan hatte. Er, Tom, hatte angefangen, sich um sie zu sorgen, und jetzt drohte ihr Kummer, ihn zu überwältigen. Plötzlich ergab ihr seltsames Verhalten in den vergangenen Wochen einen Sinn. Sie hatte sich wie ein im Krieg verletzter Soldat benommen, weil sie einer war. Sie war zwar nicht im Kampf verwundet worden, aber von einem Mann, dem sie vertraut hatte.
„Eine Sache, über die ich mich seit jenem Abend immer wieder gewundert habe, ist, warum ich den Rest der Oper neben ihm gesessen habe. Das habe ich nämlich getan, wissen Sie. Ich habe einfach … versucht, meine Frisur in Ordnung zu bringen. Dann habe ich mich wieder neben ihn gesetzt für den letzten Akt.“
Das Bild, wie sie züchtig in der vergoldeten Loge in der Oper neben dem Mann saß, der sie eben vergewaltigt hatte, schoss Tom durch den Kopf. Vielleicht war das das Schlimmste, nämlich dass sie, nachdem Ascot sich ihr aufgedrängt hatte, weitergemacht hatte, als wäre nichts geschehen. Im Mädchenpensionat hatte sie bestimmt nicht gelernt, sich zu wehren. Man hatte sie nicht gelehrt, wie man sich verhielt, wenn ein Mann, von dem man gemeint hatte, ihn zu kennen, einem Gewalt angetan hatte.
„Meine Erinnerungen an das, was danach war, sind ein bisschen verworren“, gestand sie. „Ich bin nach Hause gefahren und zu Bett gegangen, und am nächsten Tag habe ich viel geschlafen, bin im Bett geblieben. Am Abend war eine wichtige Veranstaltung, zu der ich hätte gehen müssen. Eine Bibellesung mit Vortrag. Meine Freundinnen bei Miss Boylan freuten sich seit Wochen darauf. Dort sollte ich Philip treffen. Als es aber Zeit wurde, sich fertigzumachen, habe ich gemerkt ich, dass nicht hingehen konnte. Ich bin stattdessen in die Stadt zu meinem Vater gefahren, um mit ihm zu
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