Isle Royale - Insel des Schicksals (German Edition)
Eiszapfen.
Jäh setzte sie sich im Bett auf und zog sich rasch ihr Nachthemd über. Der Hund stieß ein lautes Bellen aus. Tom wachte ebenfalls aus, griff nach seiner Hose und schlüpfte hinein, ehe er zur Tür ging.
Aber es war zu spät. Bevor er sie erreichte, drangen vier Männer in die Hütte, und drei lange Pistolenläufe richteten sich auf Toms Brust. Er ging rückwärts, schützte Deborah mit seinem Körper.
Niemand bewegte sich, sprach oder atmete auch nur einen Augenblick lang.
Dann schluckte Deborah, deren Kehle auf einmal ganz trocken geworden war, und richtete sich im Bett auf. „Vater!“
Er hatte sich verändert. In seinem langen dunklen Mantel sah er dünner aus, als in ihrer Erinnerung, und sein sonst stets rosig gesundes Gesicht war eindeutig blasser. Es ist ihm nicht gut ergangen, dachte sie sogleich.
Sie sprang auf und stellte sich vor Tom. Er fasste ihre Arme und schob sie aus dem Weg; sofort kamen zwei der bewaffneten Männer näher, zielten mit den Läufen ihrer Pistolen auf seine Brust und seinen Hals.
„Nein!“, schrie Deborah und stellte sich wieder vor Tom. Es kümmerte sie nicht, dass sie nicht angemessen angezogen war, dass ihr Vater und drei Fremde sie im Nachthemd sahen, barfuß und mit ungekämmten wirren Haaren. „Das wagen Sie nicht“, sagte sie. „Wagen Sie es besser nicht, zu schießen.“
„Sieh es dir gut an, Prinzessin“, erwiderte Tom. „Sie können tun, was immer sie wollen.“ Er versuchte sich von ihr zu lösen, hob die Arme, um ihre Hände von seinem Nacken zu nehmen. „Lass los. Sie sind hinter mir her.“
„Niemals.“ Sie klammerte sich fester an ihn. „Ich werde nicht zulassen, dass sie auf dich schießen.“ Während sie die Worte sprach, schaute sie ihren Vater an und bemerkte den Zorn in seinen Augen. Entsetzt wurde ihr klar, dass es ihrem Vater durchaus zuzutrauen war, auf Tom zu schießen. Unbewaffnet hatte Tom keine Möglichkeit, sich zu verteidigen, und ihr Vater würde kein Mitleid zeigen.
„Ich habe mir schon gedacht, dass Sie sich feige hinter einer Frau verstecken würden“, erklärte ihr Vater verächtlich an Tom gewandt.
Deborah weigerte sich, gekränkt zu sein, weil ihr Vater sie nicht gegrüßt hatte. „Ruf deine Handlanger … oder wer auch immer sonst diese Männer sind, zurück, Vater.“
„Was, zur Hölle, tun Sie hier, Sinclair?“, fragte Tom kühl. Deborah sah, wie angespannt er war, sein Atem ging schnell und er hatte eine Hand zur Faust geballt.
„Ich bin gekommen, mir zurückzuholen, was mein ist.“
„Warum bist du nicht schon früher gekommen?“, fragte Deborah scharf, und ihr Ton bewirkte, dass ihr Vater sie auf eine Weise ansah, wie er es nie zuvor getan hatte. Mit so etwas wie Respekt.
„Ich verhandle nicht mit Verbrechern“, sagte er schlicht.
„Noch nicht einmal, wenn es um mich geht?“ Sie sprach leise, unfähig, den Schmerz aus ihrer Stimme herauszuhalten. Der Hund knurrte drohend.
Ihr Vater starrte sie an, als wäre sie eine Fremde. „Ich will mir lieber nicht vorstellen, was du alles in den Händen dieses Wahnsinnigen durchgemacht haben musst. Komm mit mir nach Hause.“ Er senkte den Blick. „Ich habe vorschnell gehandelt, war verwirrt von der Aufregung und dem Chaos in der Nacht des Feuers. Verzeih mir, Deborah. Verzeih mir bitte und komm mit mir nach Hause.“
Sehnsucht flackerte in ihr auf, angefacht von dem alten Gehorsam, der ihr von klein auf eingetrichtert worden war. Er klang so aufrichtig. Sie hatte sich gestattet zu hoffen, dass sie und ihr Vater einander vergeben könnten. Aber sie hatte das Gefühl, gar nicht wirklich existiert zu haben, bis sie nach Isle Royale gekommen war und sich selbst entdeckt hatte, herausgefunden hatte, was im Leben wichtig war. Bis dahin war sie eine hohle Schale gewesen – eine, die ihr Vater erschaffen hatte.
„Ruf deine Männer zurück, Vater“, wiederholte sie. „Ich werde nicht nachgeben, bis du das tust.“
Sie hörte, wie ihm der Atem stockte, schließlich hatte er sie noch nie zuvor derart selbstsicher und fordernd erlebt. Er zögerte, dann klopfte er mit seinem Gehstock auf den Boden. Die Männer ließen ihre Waffen sinken, sicherten sie aber nicht. Im ersten Licht des anbrechenden Tages sah Deborah, dass ihre Hüte alle mit Litzen eingefasst waren; sie trugen lange Mäntel mit roter Paspelung entlang der Nähte und mit einem schmalen Anstecker am Kragen, der ein einzelnes geöffnetes Auge zeigte. Allan Pinkertons Männer. Angeheuerte
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