Isle Royale - Insel des Schicksals (German Edition)
sodass sie zu völliger Reglosigkeit verdammt war. Tränen brannten ihr in die Augen, aber sie weigerte sich, ihnen freien Lauf zu lassen. Genug der Schwäche und der Tränen. Sie würden ihr in dieser prekären Situation nichts nutzen.
Tom Silver war es eindeutig egal, ob sie weinte oder nicht. Er stand auf und betrachtete sie mit ausdrucksloser Miene. „Ich hätte Sie heute freigelassen“, teilte er ihr beiläufig mit. „Lightning Jack und ich hatten es gerade besprochen.“
Lügner, dachte sie. Das sagen Sie nur, um mich zu quälen.
„Jawohl. Unsere Abmachung war, dass wenn Sie sich ordentlich benehmen, wir die Sache abblasen.“
Lügner. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätten Sie es mir gesagt.
„Vielleicht hätten Sie heute Abend in einem Zug gesessen, wenn Sie nicht das Signal angezündet und anschließend versucht hätten, über Bord zu springen. Aber Sie haben mich eines gelehrt, Prinzessin: Sie sind die Tochter Ihres Vaters.“
Der Grobian wusste es noch nicht, aber heute hatte er alle Gedanken daran, ins kalte Wasser zu springen, aus ihrem Kopf vertrieben. Sie wollte nicht länger sterben. Sie wollte leben – und ihm sein Leben zur Hölle machen.
Tom verstand nicht, warum er immerzu an die Frau in der engen Kabine unten denken musste. Sein Gewissen hatte ihn nie sonderlich geplagt. Das war die einzige Möglichkeit gewesen, den Krieg zu überstehen, ohne verrückt zu werden. Aber sich den Weg durch das Feuer zu kämpfen und Deborah Sinclair als Geisel zu nehmen, hatte einen üblen Nachgeschmack in seinem Mund hinterlassen. Etwas in ihm war erwacht. Etwas Dunkles, Beunruhigendes und außer Kontrolle Geratenes.
Das Geräusch der brennenden Signalfackel und der Lichtbogen in der Luft hatte Erinnerungen geweckt, die er lange für begraben gehalten hatte. Einen kurzen schrecklichen Moment lang war er wieder zurück gewesen auf dem Schlachtfeld von Kenaha Falls, ritt wie besessen auf dem Rücken einer schweißüberströmten Stute, während Geschütze der Rebellen um ihn herum durch die Luft zischten und Kugeln die Erde aufspritzen ließen, die Blätter von den Bäumen fetzten.
Es war ein Tag, an den er seit Jahren nicht gedacht hatte. Doch Deborah Sinclairs Verzweiflungstat hatte ihn ihm wieder ins Gedächtnis gerufen. Er war sich nicht sicher, warum. Vielleicht war es der Anblick des Feuers am taghellen Himmel gewesen. Aber wahrscheinlicher war es, dass viel tiefer ein Funke in ihm zu glimmen begonnen hatte, entfacht von ihrer Unberechenbarkeit in Verbindung mit ihrem Willen, zu leben, zu überleben. Sie hatte ihn an den lebenshungrigen Jungen erinnert, der er gewesen war, als er sich hatte anwerben lassen. Von Lightning Jack in den Wäldern im Norden aufgezogen hatte er keine Ahnung von der harten Realität des Soldatenlebens gehabt. Aber er war jung genug, gelangweilt und unwissend genug gewesen, sich in die Gefahr zu stürzen. Der endlose Drill der einfachen Soldaten hatte ihn ungeduldig werden lassen, und er hatte sich voller Eifer freiwillig gemeldet, Kurierritte für General Thaddeus Whitcomb zu übernehmen. Der alte Herr hatte sich nachdenklich die Koteletten gerieben, während er den dünnen sechzehnjährigen Jungen vor sich musterte. Dann hatte er gesagt: „Wenn du dumm genug bist, dich freiwillig zu melden, dann bin ich klug genug, dich dort einzusetzen, wo ich dich brauche.“
Seine Aufträge waren einer waghalsiger als der andere gewesen. Er hatte auf seinen Missionen unterernährte Armeepferde zuschanden geritten, war mitten in der Nacht durch völlig unbekanntes Gebiet galoppiert oder durch den Kanonenqualm auf dem Schlachtfeld, hatte nie wissen können, wann eine Granate oder eine Kugel ihn treffen würde. Dieselbe Unberechenbarkeit und Gefährlichkeit begegnete ihm nun in Deborah Sinclair. Jetzt, zehn Jahre nach dem Krieg, begriff er, dass Waghalsigkeit nicht dasselbe war wie Mut.
Nach dem letzten Zwischenfall hatte er Lightning Jack irgendwann unter Deck geschickt, um sie von ihren Fesseln zu befreien, nachdem sie weit genug von der Stadt entfernt waren. Der nächste Teil ihrer Reise, zur engen Straße von Mackinac und durch die Schleusen bei Sault Sainte Marie, versprach lang und ereignislos zu werden. Er hatte vor, die dortige Telegrafenstation zu nutzen, aber er hatte wenig Hoffnung, eine Antwort von Arthur Sinclair erhalten zu haben. Nach den Berichten, die Tom in der Zeitung aus Milwaukee gelesen hatte, herrschte in Chicago Chaos. Er würde einfach an seinem Plan
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