Isle Royale - Insel des Schicksals (German Edition)
Schachbrettmuster des Marmorbodens. Eine Alabasterstatue von Narcissus, der auf ewig Wasser in ein riesiges weißes Marmorbecken goss, stand in der Kurve der prächtigen Treppe; für einen Moment betrachtete Deborah seine leeren Augen.
Neben der Treppe befand sich etwas recht Neumodisches – ein mechanischer Lift. Im Prinzip funktionierte er wie die großen Getreideaufzüge an den Beladestationen der Eisenbahn oder am Seeufer. Ein System aus Flaschenzügen bewirkte, dass die kleine Kabine hoch oder runter fuhr. Ihr Vater hatte ein lahmes Bein, eine Verletzung aus dem Krieg vor einem Jahrzehnt, und es fiel ihm sehr schwer, Treppen hochzusteigen oder hinabzugehen.
Deborah erinnerte der Aufzug stets an einen riesigen Vogelkäfig. Obwohl die Gitterstäbe mit kostbarem Blattgold überzogen waren, waren es dennoch Gitterstäbe. Als sie das erste Mal in dem vergoldeten Käfig gestanden hatte, hatte sie unvermittelt schreckliche Angst verspürt, als wäre sie gefangen. Bei dem Gefühl, von den dicken Kabeln nach oben gezogen zu werden, hatte sich ihr der Magen verdreht. Nach dieser einen unbehaglichen Fahrt hatte sie es stets vorgezogen, die Treppe zu nehmen.
Das handgeschnitzte Geländer der großzügig geschwungenen Treppe war gewachst und poliert, dass es nur so glänzte. Sie ließ ihre Hand über die glatte Oberfläche gleiten und erinnerte sich daran, wie perfekt sie auf dem Geländer hatte rutschen können. Das war der einzige Akt der Auflehnung in ihrer Kindheit gewesen. Gleichgültig, wie viele Male ihre Kinderfrau oder ihre Lehrerin oder gar ihr Vater sie deswegen gescholten hatten, sie hatte auf die Turnübungen auf dem Geländer nicht verzichtet. Die Versuchung war einfach zu groß gewesen, sich mit einer Pobacke auf das Geländer zu setzen, das Gleichgewicht auszubalancieren und dann mit Schwung hinabzusausen, dabei immer schneller zu werden. Ihre Landungen waren nicht immer sanft gewesen, was zahlreiche blaue Flecken bewiesen hatten, aber die kleineren Blessuren waren ihr nie als sonderlich hoher Preis für die wilde Freude der Rutschpartie erschienen.
Anders als bei so vielen anderen Dingen war es ihrem Vater nicht gelungen, es ihr abzugewöhnen. Er hatte ihr in allem strenge Vorschriften gesetzt, aber in ihr glomm nach wie vor ein rebellischer Funke des Übermuts, den er nie hatte ersticken können.
Deborah begann die Stufen hochzusteigen. Das Arbeitszimmer diente Arthur Sinclair zur Erledigung seiner Geschäfte, und er arbeitete dort bis spät in die Nacht, widmete sich mit demselben Eifer seiner Arbeit wie ein Mönch seinen Meditationsgebeten. Er betrachtete das Anhäufen von Reichtum und Ansehen als seinen Weg zur Erlösung. Aber es gab eine Sache, die ihm all sein Geld und sein Einfluss nicht kaufen konnten – das Gefühl, zu der oberen Gesellschaftsschicht zu gehören, die auf Menschen wie ihn herabblickte. Um diesen Respekt zu erlangen, war mehr nötig als Geld. Dafür brauchte er Deborah.
Sie fröstelte wieder, obwohl es im Haus unangenehm warm war, und ging langsam die Treppe hinauf. Sie kam an wunderschön gemalten Porträts in verschnörkelten und vergoldeten Bilderrahmen vorbei. Die Gemälde zeigten ehrwürdige Vorfahren, manche stammten sogar aus der Zeit der Mayflower oder waren noch älter. Leider nur zeigten die Bilder Fremde, waren Ahnen anderer Familien. Sie hatte sich früher immer Geschichten ausgedacht rund um die streng schauenden Aristokraten, die erstarrt in den Gold schimmernden Rahmen hingen. Einer war ein Abenteurer, ein anderer ein Seemann, wieder ein anderer ein bedeutender Diplomat. Es waren alles Männer, die etwas mit ihrem Leben angefangen hatten, statt von dem Vermögen ihrer Vorfahren zu zehren.
Sie würde nie begreifen, warum ihr Vater es als weniger ehrenwert ansah, dass er sich seinen Reichtum erarbeitet hatte, statt ihn geerbt zu haben. Sie hatte ihn einmal gefragt, aber seine Antwort nicht verstanden. „Ich möchte ein Gefühl von Dauerhaftigkeit in der Welt haben“, hatte er gesagt. „Ein Gefühl, dass ich nur das Beste von allem zusammengetragen habe. Ich möchte etwas erreichen, das viel länger Bestand hat als meine eigene kurze Lebensspanne.“
Es war ein wahnsinniges Unterfangen, Geld aufzuwenden, um die Dinge zu erstehen, die zu sammeln und anzuhäufen andere Familien Generationen benötigt hatten, aber er betrachtete es als eine Art heilige Pflicht.
Sie kam am oberen Ende der Treppe an und hielt inne, die Hand auf dem gedrechselten Treppenpfosten.
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