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Ismael

Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn
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ein Gesetz, und meine Aufgabe ist, dir zu zeigen, wie dieses Gesetz wirkt. In diesem Stadium kann ich dir das am leichtesten durch den Vergleich mit Gesetzen zeigen, die du bereits kennst - dem Gravitationsgesetz und den Gesetzen der Aerodynamik.«
    »Einverstanden.«
    6
    »Du weißt, daß wir, wenn wir hier sitzen, nicht gegen das Gravitationsgesetz verstoßen. Frei bewegliche Körper fallen zum Erdmittelpunkt hin, aber die Oberflächen, auf denen wir sitzen, halten unseren Fall auf.«
    »Richtig.«
    »Die Gesetze der Aerodynamik ermöglichen uns nicht, das Gravitationsgesetz außer Kraft zu setzen. Das verstehst du sicher. Sie ermöglichen uns lediglich, die Luft als Stütze zu benutzen. Ein Mensch, der in einem Flugzeug sitzt, ist dem Gravitationsgesetz genauso unterworfen wie wir, die wir hier sitzen. Aber der Mensch im Flugzeug ist ganz offensichtlich im Besitz einer Freiheit, die wir nicht haben: der Freiheit der Lüfte.«
    »Ja.«
    »Das Gesetz, das wir suchen, ist wie das Gesetz der Schwerkraft: Man kann ihm nicht entrinnen, aber man kann etwas erreichen, das dem Fliegen, der Freiheit der Lüfte, vergleichbar ist. Bildlich gesprochen, man kann eine Zivilisation errichten, die fliegt.«
    Ich starrte ihn einen Augenblick an, dann sagte ich: »Also gut.«
    »Du erinnerst dich, wie die Nehmer es anstellten, das Fliegen zu erlernen. Am Anfang wußten sie noch nichts von den Gesetzen der Aerodynamik. Sie begannen nicht mit einer Theorie, die auf Forschung und sorgfältig geplanten Experimenten basierte. Sie bauten einfach Flugapparate, stürzten sich damit einen steilen Felsen hinunter und hofften das Beste.«
    »Stimmt.«
    »Gut. Ich will jetzt einen solchen frühen Versuch genauer verfolgen. Nehmen wir an, der Versuch wurde mit einem jener wunderbaren, von Pedalen angetriebenen Apparate mit schlagenden Flügeln gemacht, deren Konstruktion auf eine falsche Vorstellung vom Fliegen zurückging.«
    »Einverstanden.«
    »Zunächst klappt alles bestens. Unser hoffnungsfroher Pilot läßt sich über den Rand eines Felsens schieben und tritt nun kräftig in die Pedale. Die Flügel seines Fahrzeugs schlagen wie verrückt, und er fühlt sich großartig, euphorisch. Er genießt die Freiheit der Lüfte. Leider weiß er nicht, daß sein Fahrzeug gar nicht fliegen kann. Es entspricht nicht den Gesetzen, die das Riegen möglich machen - aber er würde dich auslachen, wenn du ihm das sagtest. Er hat noch nie von solchen Gesetzen gehört und kennt sie nicht. Er würde auf die schlagenden Flügel zeigen und sagen: >Siehst du die? Genau wie bei einem Vögel!< Aber egal, was er glaubt, er fliegt nicht. Er ist ein frei beweglicher Körper, der zum Erdmittelpunkt hin fällt. Er fliegt nicht, er fällt. Folgst du mir noch?«
    »Ja.«
    »Zu seinem Glück - oder eher zu seinem Unglück - hat unser Flieger für den Start einen sehr hohen Berg gewählt. Seine Desillusion ist räumlich wie zeitlich noch weit entfernt. Er befindet sich also im freien Fall, fühlt sich großartig und gratuliert sich zu seinem Triumph. Er ist wie der Mann in dem Witz, der einer Wette halber aus einem Fenster im neunzigsten Stock springt. Als er am zehnten Stock vorbeikommt, sagt er zu sich: >Na also! So weit, so gut!<
    Und er fällt weiter, begeistert über den vermeintlichen Flug. Aus seiner großen Höhe sieht er meilenweit in alle Richtungen, und er sieht etwas, das ihn verblüfft: Der Boden des Tales ist mit Fahrzeugen wie dem seinen übersät, Fahrzeugen, die nicht zerschellt sind, sondern nur verlassen dastehen. >Warum<, so fragt er sich, >sind diese Flugzeuge nicht in der Luft, warum stehen sie auf der Erde? Welcher Narr ließe sein Flugzeug auf der Erde stehen, wenn er die Freiheit der Lüfte genießen könnte?< Aber gut, die Dummheit der minderbemittelten, erdgebundenen Sterblichen geht ihn nichts an. Der Blick ins Tal hat ihn jedoch noch auf etwas anderes aufmerksam gemacht. Offensichtlich verliert er an Höhe, ja, die Erde scheint ihm regelrecht entgegenzuwachsen. Er sorgt sich darüber freilich nicht übermäßig. Schließlich war sein Flug bisher ein voller Erfolg, und es gibt keinen Grund, warum das nicht auch weiterhin so sein sollte. Er muß eben etwas stärker in die Pedale treten, das ist alles.
    So weit, so gut. Belustigt denkt er an die Pessimisten, die prophezeit haben, sein Flug werde in einer Katastrophe enden, mit gebrochenen Knochen oder gar dem Tod. Und hier fliegt er, schon seit geraumer Zeit, und hat nicht einmal eine Prellung,

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