Ismael
können. Wieder sehen sie dich verwirrt an. >Was meinst du mit gesetzlos? < fragen sie. >Wir haben ein Gesetz, an das wir uns alle streng halten. Deshalb sind wir ja so freundlich, fröhlich, friedlich und alles andere, was dir bei uns so gefällt. Dieses Gesetz ist der Grund, warum es uns so gut geht, und das war schon immer so.<
Und jetzt das Rätsel. Wie findest du heraus, um welches Gesetz es sich handelt, ohne sie zu fragen?«
Ich starrte ihn an. »Keine Ahnung.«
»Denke nach.«
»Na ja ... offenbar ist ihr Gesetz, daß die A die C essen und die B die A und die C die B.«
Ismael schüttelte den Kopf. »Das sind nur bestimmte Vorlieben bei der Nahrungswahl. Dazu ist kein Gesetz nötig.«
»Dann brauche ich noch einige Hinweise. Ich weiß bisher nur, wer wen ißt.«
»Du hast drei weitere Hinweise. Sie haben ein Gesetz, alle befolgen dieses Gesetz, und weil alle es befolgen, funktioniert ihre Gesellschaft reibungslos.«
»Das ist immer noch ein bißchen dürftig. Es sei denn, das Gesetz lautete ... >Ruhe bewahren.<«
»Du sollst nicht raten. Du sollst eine Methode entwickeln, wie du auf das Gesetz kommst.«
Ich rutschte tiefer in meinen Sessel, faltete die Hände über dem Bauch und starrte an die Decke. Nach ein paar Minuten hatte ich eine Idee. »Wird ein Verstoß gegen das Gesetz bestraft?«
»Mit dem Tod.«
»Dann würde ich warten, bis jemand hingerichtet wird.«
Ismael lächelte. »Raffiniert, aber keine Methode. Außerdem vergißt du, daß ausnahmslos alle dem Gesetz gehorchen. Es mußte noch nie jemand hingerichtet werden.«
Ich seufzte und schloß die Augen. Nach einer Weile sagte ich: »Dann würde ich die Menschen über einen längeren Zeitraum genau beobachten.«
»Das klingt schon besser. Auf was würdest du achten?«
»Auf das, was sie nicht tun. Was sie nie tun.«
»Gut. Aber wie würdest du dabei zwischen wichtigen und unwichtigen Dingen unterscheiden? Du würdest zum Beispiel feststellen, daß sie nicht auf dem Kopf schlafen, nicht in Abendgarderobe zum Schwimmen gehen und nicht mit Steinen nach dem Mond werfen. Sie würden eine Million Dinge nicht tun, ohne daß diese notwendigerweise durch das Gesetz verboten wären.«
»Stimmt. Laß mich überlegen. Sie haben ein Gesetz, sie befolgen es alle, und sie sagen, daß ... Aha. Sie sagen, daß ihre Gesellschaft funktioniert, weil sie das Gesetz befolgen. Ist das ernst gemeint?«
»Gewiß. Es ist Teil der Hypothese.«
»Dann würde das die meisten unwichtigen Dinge ausscheiden. Die Tatsache, daß sie nicht auf dem Kopf schlafen, hätte ja nichts mit einer erfolgreichen Gesellschaft zu tun. Laß sehen. Also ... wonach ich suchen würde ... ich würde mich dem Problem von zwei Seiten nähern. Einmal würde ich fragen: >Warum funktioniert diese Gesellschaft?< Und dann würde ich fragen: >Gibt es bei diesen Menschen ein Verbot, das zugleich den Erfolg ihrer Gesellschaft begründet?«<
»Bravo. Weil du das so gut gemacht hast, gebe ich dir noch einen Hinweis. Zum ersten Mal in der Geschichte dieser Gesellschaft hat jemand das Gesetz gebrochen, das der Gesellschaft zugrunde liegt. Die Menschen sind empört, entsetzt, vor den Kopf geschlagen. Sie ergreifen den Sünder, zerreißen ihn in Stücke und verfüttern ihn den Hunden. So, jetzt müßtest du eigentlich auf das Gesetz kommen.«
»Hm.«
»Ich spiele jetzt den Gastgeber. Wir kommen gerade von der Hinrichtung. Du kannst Fragen stellen.«
»Gut. Also was hat der Mann getan?«
»Er hat das Gesetz gebrochen.«
»Ja, aber was genau hat er getan?«
Ismael zuckte die Schultern. »Er hat nicht im Einklang mit dem Gesetz gelebt. Er hat Dinge getan, die wir nicht tun.«
Ich sah Ismael wütend an. »Das ist unfair. Du beantwortest meine Fragen nicht.«
»Aber aber, junger Mann, die ganze traurige Geschichte ist veröffentlicht worden. Die vollständige Biographie des Verurteilten ist in der Bibliothek nachzulesen.«
Ich grunzte nur.
»Wie willst du diese Biographie verwenden? In ihr steht nicht, wie er das Gesetz gebrochen hat. Sie ist lediglich ein vollständiger Bericht seines Lebens, und ein großer Teil davon ist deshalb für unser Problem ganz unwichtig.«
»Meinetwegen, aber einen Hinweis mehr habe ich jetzt immerhin. Ich muß auf drei Sachen achten: was den Erfolg dieser Gesellschaft ausmacht, was die Menschen dieser Gesellschaft nicht tun und was der Verurteilte als einziger getan hat.«
2
»Sehr gut. Das sind genau die drei Leitfragen, die du für die Suche nach dem Gesetz
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