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Ismael

Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn
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gut ausgedrückt. Das Gesetz, nach dem wir hier suchen, verhält sich ähnlich zur menschlichen Zivilisation. Es gilt nicht nur für Zivilisationen, sondern genauso für Vogelschwärme und Rehherden. Es unterscheidet nicht zwischen menschlichen Zivilisationen und Bienenstaaten, es gilt unterschiedslos für alle Arten. Unter anderem deshalb hat in deiner Kultur noch niemand dieses Gesetz entdeckt. Denn die Mythologie der Nehmer definiert den Menschen als biologische Ausnahme. Von Millionen Arten ist nur eine einzige das Ziel der Schöpfung. Die Welt wurde nicht erschaffen, um Frösche, Heuschrecken oder Haie hervorzubringen, sondern den Menschen. Der Mensch hat eine Sonderstellung, er ist einzigartig und über alle anderen Geschöpfe unendlich weit erhaben.«
    »Stimmt.«
    5
    Ismael starrte einige Minuten lang auf einen Punkt ungefähr einen halben Meter vor seiner Nase, und ich fürchtete schon, er habe mich vergessen, als er mit einem Kopfschütteln wieder zu sich kam. Zum ersten Mal hielt er mir nun eine Art kleinen Vortrag.
    »Die Götter haben den Nehmern drei böse Streiche gespielt«, begann er. »Erstens haben sie die Erde nicht dorthin gestellt, wo sie nach Ansicht der Nehmer hingehört, nämlich ins Zentrum des Universums. Die Menschen waren verärgert, als sie das erfuhren, aber sie gewöhnten sich daran. Auch wenn die Erde im hintersten Winkel des Universums versteckt war, konnten sie doch immer noch glauben, sie seien im Schöpfungsdrama die Hauptpersonen.
    Der zweite Streich der Götter war schlimmer. Der Mensch war die Krone der Schöpfung und die Kreatur, um derentwillen alles andere existierte, die Götter hätten also den Anstand haben müssen, den Menschen in einer seiner Würde und Bedeutung angemessenen Weise zu erschaffen - in einem eigenen, getrennten Schöpfungsakt. Statt dessen entwickelte der Mensch sich aus dem Urschleim wie die Zecke und der Leberegel. Die Nehmer waren sehr verärgert, als sie das erfuhren, aber allmählich gewöhnten sie sich auch daran. Der Mensch mochte aus dem Urschleim kommen, aber er war nach dem Willen der Götter dazu bestimmt, die Welt und dereinst vielleicht sogar das ganze Universum zu beherrschen.
    Der letzte der göttlichen Streiche war freilich der schlimmste. Obwohl die Nehmer es noch nicht wissen, nahmen die Götter sie nicht von dem Gesetz aus, das auch das Leben der Maden, Zecken, Garnelen, Kaninchen, Mollusken, Rehe, Löwen und Quallen regiert. Das Gesetz sollte genauso für den Menschen gelten wie das Gesetz der Schwerkraft, und das wird die Nehmer am härtesten treffen. Die anderen Streiche
    der Götter konnten sie in ihr Weltbild einbauen. Bei diesem ist das unmöglich.«
    Ismael saß eine Weile stumm da, ein Berg aus Fell und Reisch, wahrscheinlich, damit ich das bisher Gesagte verdauen konnte. Dann fuhr er fort: »Jedes Gesetz hat bestimmte Auswirkungen, sonst könnte man es ja nicht entdecken. Die Auswirkungen des Gesetzes, das wir suchen, sind sehr einfach. Arten, die in Übereinstimmung mit dem Gesetz leben, leben ewig, vorausgesetzt, die Umweltbedingungen lassen das zu. Das ist für die Menschen hoffentlich eine gute Nachricht, denn wenn sie in Übereinstimmung mit dem Gesetz leben, werden auch sie ewig leben oder eben so lange, wie die Umweltbedingungen es zulassen.
    Aber natürlich ist das nicht die einzige Auswirkung des Gesetzes. Arten, die nicht in Übereinstimmung mit ihm leben, sterben aus. Gemessen an der geologischen Zeit sogar sehr schnell. Und das ist für die Menschen deiner Kultur eine sehr schlechte Nachricht - die schlechteste, die sie je bekommen haben.«
    »Glaube bitte nicht, daß ich jetzt weiß, wo ich nach diesem Gesetz suchen muß«, sagte ich.
    Ismael überlegte kurz, nahm dann einen Zweig von dem Haufen rechts von ihm, hielt ihn hoch, so daß ich ihn sehen konnte, und ließ ihn auf den Boden fallen. »Das ist die Tatsache, die Newton zu erklären versuchte.« Er machte eine Handbewegung zum Fenster. »Die Welt da draußen ist die Tatsache, die ich zu erklären versuche. Du hast da draußen eine Welt voller Arten, die, günstige Umweltbedingungen vorausgesetzt, ewig leben werden.«
    »Davon gehe ich aus. Aber warum soll man das erklären?«
    Ismael nahm noch einen Zweig von dem Haufen, hielt ihn hoch und ließ ihn fallen. »Warum soll man das erklären?«
    »Also gut. Du willst demonstrieren, daß dieses Phänomen eine Ursache hat, daß es aus einem Gesetz folgt. Daß dahinter ein Gesetz steht.«
    »Genau. Dahinter steht

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