Ismael
geschweige denn gebrochene Knochen. Aber dann sieht er wieder hinunter, und was er dort sieht, gibt ihm nun doch zu denken. Das Gesetz der Schwerkraft holt ihn mit 9,8 Meter pro Sekunde im Quadrat ein - immer schneller also. Der Boden kommt mit alarmierender Geschwindigkeit näher. Der Flieger ist besorgt, aber noch keineswegs verzweifelt. >Mein Flugzeug hat mich sicher bis hierher gebracht, tröstet er sich. >Ich brauche nur weiterzumachen wie bisher. < Und er tritt mit aller Macht in die Pedale. Was ihm natürlich überhaupt nichts nützt, da sein Fahrzeug den Gesetzen der Aerodynamik nicht entspricht. Selbst wenn er die Kraft von tausend Männern in seinen Beinen hätte, ja, von zehntausend, von einer Million Männern, sein Fahrzeug würde nicht fliegen. Es ist zum Absturz verurteilt, und er auch, wenn er nicht vorher aussteigt.«
»Stimmt«, sagte ich. »Ich verstehe, was du meinst, aber ich verstehe nicht, was das alles mit unserem Thema zu tun haben soll.«
Ismael nickte. »Das kann ich dir sagen. Vor zehntausend Jahren haben sich die Menschen deiner Kultur auf einen ähnlichen Flug begeben: den Flug der Zivilisation. Beim Bau ihres Fahrzeugs haben sie an keinerlei Theorie gedacht. Ähnlich wie unser imaginärer Flieger wußten sie gar nicht, daß man ein Gesetz beachten muß, wenn ein solcher Flug gelingen soll. Sie suchten also auch nicht nach einem solchen Gesetz. Sie wollten die Freiheit der Lüfte, deshalb legten sie im ersten Fahrzeug los, das ihnen in die Finger kam: dem Flugzeug der Nehmer.
Zuerst ging auch alles gut. Mehr noch, alles war bestens. Die Nehmer strampelten munter drauflos, und die Flügel ihres Fahrzeugs funktionierten hervorragend. Sie fühlten sich großartig und waren begeistert. Hier erlebten sie also die Freiheit der Lüfte: die Freiheit von jenen Einschränkungen, die das Leben auf der Erde hemmen und fesseln. Und mit der Freiheit kamen andere Wunder - du hast sie gestern aufgezählt: die ersten Städte, Technik, Bildung, Mathematik und die anderen Naturwissenschaften.
Der Flug schien ewig zu dauern, und er schien immer faszinierender zu werden. Sie konnten ja nicht wissen, nicht einmal ahnen, daß sie wie unser unglücklicher Flieger zwar in der Luft waren, aber nicht flogen. Sie stürzten ab, weil ihr Fahrzeug nicht dem Gesetz entsprach, welches das Fliegen ermöglicht. Ihre Ernüchterung hegt allerdings noch weit in der Zukunft, deshalb strampeln sie munter weiter und genießen die Fahrt. Wie unser Hieger sehen sie auf ihrem Sturz seltsame Dinge. Sie sehen die Reste von Fahrzeugen ähnlich ihrem eigenen, nicht zerstört, nur verlassen, Fahrzeuge der Maya, der Hohokam, der Anasazi und der Völker der Hopewell-Kultur, um nur einige wenige aus der Neuen Welt zu nennen. >Warum<, fragen sie, >stehen diese Fahrzeuge auf dem Boden, warum fliegen sie nicht? Welches Volk wäre lieber an die Erde gefesselt, wenn es wie wir die Freiheit der Lüfte genießen könnte?< Sie können es nicht verstehen, und die Frage bleibt ein unergründliches Geheimnis.
Aber gut, die Dummheit dieser Völker ist den Nehmern egal. Sie strampeln weiter und genießen die Fahrt. Sie werden ihr Fahrzeug nicht verlassen, denn sie wollen die Freiheit der Lüfte ewig genießen. Leider holt ein Gesetz sie ein. Sie wissen zwar nicht einmal, daß es dieses Gesetz gibt, aber das schützt sie nicht vor den Folgen ihres Irrtums. Das Gesetz ist so unerbittlich wie das Gravitationsgesetz, und es holt sie ein, wie das Gravitationsgesetz unseren Flieger eingeholt hat: mit wachsender Geschwindigkeit.
Der kleine Malthus sieht hinunter. Vor tausend, ja vor fünfhundert Jahren wäre ihm wahrscheinlich noch nichts aufgefallen. Aber was er jetzt sieht, alarmiert ihn. Der Boden scheint gleichsam auf sie zuzurasen - es sieht aus, als sollten sie bald auf ihm zerschellen. Malthus stellt einige Rechnungen an und sagt: >Wenn wir so weitermachen, haben wir in nicht allzu ferner Zukunft große Problemen Die anderen Nehmer tun die Warnung mit einem Schulterzucken ab: >Wir sind schon so weit gekommen und haben bisher nicht einmal einen Kratzer davongetragen. Mag sein, daß der Boden näherkommt, dann müssen wir eben stärker in die Pedale treten. Kein Grund zur Panik.< Trotzdem wurde der Hunger im Fahrzeug der Nehmer bald zu einer ständigen Begleiterscheinung, wie Malthus vorausgesagt hatte - und die Nehmer mußten immer härter und mit größerer Effizienz als zuvor in die Pedale treten. Aber seltsam, je mehr sie sich abstrampelten,
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