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Ismael

Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn
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mußte mir eingestehen: Ich wollte nicht nur einen Lehrer, ich wollte einen Lehrer fürs ganze Leben.

Acht
    1
    Ich brauchte vier Tage, bis ich das Gesetz gefunden hatte.
    Einen Tag lang redete ich mir ein, ich würde die Aufgabe nie lösen können, am zweiten und dritten Tag löste ich sie, am vierten Tag überprüfte ich die Lösung. Am fünften Tag kehrte ich zurück. Als ich Ismaels Büro betrat, probte ich im stillen noch einmal, was genau ich sagen wollte.
    Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch und wußte einen Augenblick nicht mehr, wo ich war. Ich hatte vergessen, was mich erwartete: das leere Zimmer, der einsame Sessel und die Glasscheibe, hinter der zwei Augen glühten.
    Dumm, wie ich war, quäkte ich ein lautes Hallo.
    Ismael begrüßte mich, wie er mich noch nie begrüßt hatte. Er zog die Oberlippe hoch und entblößte eine Reihe bernsteinfarbener Zähne, massiv wie Steinblöcke.
    Ich hastete zu meinem Sessel und wartete wie ein Schuljunge darauf, daß Ismael nickte.
    »Ich glaube, ich weiß jetzt, warum du unbedingt wolltest, daß ich das Gesetz selbst finde«, begann ich. »Wenn du mir gesagt hättest, was die Nehmer tun und alle anderen Lebewesen nicht, hätte ich nur gesagt: >Ja, gut, und warum nicht?<«
    Ismael grunzte. »Das Banale kann manchmal erhellend sein, wenn es aus einer anderen Perspektive betrachtet wird.«
    »Genau das ist der Trick, stimmt.«
    »Genug der Vorrede. Fang an.«
    »Gut. Soviel ich sehe, tun die Nehmer vier Dinge, die andere Lebewesen nicht tun, und alle vier sind Grundpfeiler ihrer Zivilisation. Erstens bringen sie ihre Rivalen um, was in der Wildnis nicht vorkommt. Dort verteidigen die Tiere ihr Territorium und ihre Beute und sie überfallen auch die Territorien ihrer Rivalen und holen sich deren Beute. Einige Arten jagen auch ihre Rivalen, aber sie jagen sie nie um des Tötens willen, wie es Rancher und Farmer mit Kojoten, Füchsen und Krähen tun. Die Tiere fressen ihre Beute.«
    »Und woher weißt du, daß dieses Gesetz allgemeingültig ist? Ich meine einmal abgesehen davon, daß noch nie jemand gesehen hat, daß Rivalen einander in der >Wildnis<, wie du sie nennst, töten.«
    »Wenn es nicht allgemeingültig wäre, sähe die Welt heute anders aus. Das hast du ja auch gesagt. Wenn Rivalen einander nur um des Tötens willen jagen würden, dann gäbe es keine Rivalen mehr. Es gäbe auf jeder Ebene des Existenzkampfes nur noch eine Art: die stärkste.«
    »Weiter.«
    »Zweitens zerstören die Nehmer systematisch die Nahrungsgrundlage ihrer Rivalen, damit sie mehr Nahrung für sich selbst anbauen können. So etwas gibt es in der Natur nicht. Dort lautet die Regel: Nimm, was du brauchst, und laß den Rest in Ruhe.«
    Ismael nickte.
    »Drittens verweigern die Nehmer ihren Rivalen den Zugang zu jeglicher Nahrung überhaupt. In der Wildnis gilt die Regel: Du darfst deinem Rivalen verweigern, was du selbst gerade frißt, aber du darfst ihm nicht den Zugang zur Nahrung überhaupt verweigern. Anders ausgedrückt, du kannst sagen: >Diese Gazelle gehört mir<, aber nicht: >Alle Gazellen gehören mir.< Der Löwe beansprucht die Gazelle, die er erbeutet hat, aber nicht alle Gazellen.«
    »Richtig. Aber angenommen, du ziehst selbst eine Viehherde groß, von Anfang an sozusagen. Könntest du diese Herde als dein Eigentum beanspruchen?«
    »Ich weiß nicht. Ich nehme an ja, solange du nicht sagst, alle Viehherden der Welt gehören dir.«
    »Und kannst du deinen Rivalen verweigern, was du anbaust?«
    »Bei uns gilt die Devise: Jeder Quadratmeter dieses Planeten gehört uns. Wenn wir also alles bebauen, haben unsere Rivalen eben Pech gehabt und müssen aussterben. Unsere Devise ist, unseren Rivalen überhaupt alle Nahrungsmittel vorzuenthalten, und das tut ganz offensichtlich keine andere Art.«
    »Die Bienen lassen dich nicht an das, was im Bienenstock unter dem Apfelbaum ist, aber an die Äpfel lassen sie dich.«
    »Genau.«
    »Einverstanden. Und die Nehmer tun noch etwas Viertes, das die Tiere nicht tun?«
    »Ja. In der Wildnis tötet der Löwe eine Gazelle und frißt sie. Er tötet nicht noch eine zweite Gazelle, um sie für den nächsten Tag aufzusparen. Das Reh frißt das Gras, das da ist. Es mäht kein Gras und bewahrt es für den Winter auf. Aber die Nehmer tun das.«
    »Du bist dir bei diesem Gesetz nicht so sicher wie bei den anderen.«
    »Ja. Denn es gibt Arten, die Nahrung sammeln, wie zum Beispiel die Bienen. Aber die meisten Arten tun es nicht.«
    »In diesem Fall hast du

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