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Ismael

Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn
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brauchst. Die Lebensgemeinschaft auf der Erde hat drei Milliarden Jahre gut, ja sogar hervorragend funktioniert. Die Nehmer haben sich schaudernd davon abgewandt, im Glauben, auf der Erde herrsche ein gesetzloses Chaos und ein gnadenloser Existenzkampf, bei dem jede Kreatur um ihr Leben fürchten müsse. Aber die Menschen, die in dieser Gemeinschaft leben, finden das gar nicht, und sie werden bis zum letzten Blutstropfen kämpfen, bevor sie sich aus dieser Gemeinschaft herausreißen lassen.
    Denn in Wirklichkeit herrscht in der Gemeinschaft Ordnung. Die Grünpflanzen sind die Nahrung der Pflanzenfresser, die Pflanzenfresser die Nahrung der Raubtiere und einige Raubtiere die Nahrung anderer Raubtiere. Und was übrigbleibt, ist die Nahrung der Aasfresser, die wiederum der Erde die Nährstoffe zurückgeben, die die Grünpflanzen brauchen. Dieses System hat Milliarden von Jahren hervorragend funktioniert. Filmregisseure zeigen natürlich gern jede Menge blutige Kämpfe, aber jeder Naturkundler kann dir sagen, daß die Arten einander in keinster Weise bekriegen. Die Gazelle und der Löwe sind nur in der Einbildung der Nehmer Feinde. Wenn ein Löwe auf eine Herde Gazellen stößt, massakriert er sie nicht, wie ein Feind es täte. Er tötet nur eine, und das nicht aus Haß auf Gazellen, sondern um seinen Hunger zu stillen, und wenn er sein Opfer getötet hat, grasen die Gazellen um ihn herum friedlich weiter.
    Und das ist so, weil es ein Gesetz gibt, das von allen Gliedern der Gemeinschaft befolgt wird. Ohne dieses Gesetz würde tatsächlich das Chaos herrschen, und die Lebensgemeinschaft würde sich schnell auflösen und verschwinden. Der Mensch verdankt diesem Gesetz, daß es ihn gibt. Wenn die Arten in seiner Umwelt dieses Gesetz nicht befolgen würden, hätte er nicht entstehen und überleben können. Das Gesetz schützt nicht nur die
    Gemeinschaft als Ganzes, sondern auch die Arten der Gemeinschaft und sogar die einzelnen Individuen. Verstehst du, was ich meine?«
    »Ich verstehe, was du sagst, aber ich habe keine Ahnung, was das Gesetz sein könnte.«
    »Ich sage dir, was es bewirkt.«
    »Ah. Gut.«
    »Das Gesetz sorgt für Frieden und verhindert, daß das Leben auf der Erde zu jenem Chaos ausartet, das es in der Einbildung der Nehmer ist. Das Gesetz fördert alles Leben, das Leben der Gräser, das Leben der Heuschrecke, die das Gras frißt, das Leben der Wachtel, die die Heuschrecke frißt, das Leben des Fuchses, der die Wachtel frißt, und das Leben der Krähe, die den toten Fuchs frißt.
    Auch der Quastenflosser, der Hunderte Millionen Jahre vor diesen Tieren die Küsten der Kontinente bevölkerte, gehorchte diesem Gesetz, und aus einigen Quastenflossern wurden Lurche, die gleichfalls dem Gesetz gehorchten. Aus einigen Lurchen wurden Reptilien, aus einigen Reptilien Vögel und Säugetiere, aus einigen Säugetieren Primaten. Aus einem Zweig der Primaten ging der Australopithecus hervor, aus dem Australopithecus der Homo habilis, aus dem Homo habilis der Homo erectus, aus dem Homo erectus der Homo sapiens und aus dem Homo sapiens der Homo sapiens sapiens. Und alle gehorchten sie dem Gesetz.
    Bis dann vor rund zehntausend Jahren ein Zweig der Familie Homo sapiens sagte: >Das Gesetz gilt nicht für den Menschen. Die Götter wollen nicht, daß der Mensch durch dieses Gesetz gefesselt wird.< Und sie errichteten eine Zivilisation, die das Gesetz in jeder Hinsicht mißachtete. Fünfhundert Generationen später - ein kurzer Augenblick im Angesicht der geologischen Zeit - stellten die Menschen der Familie Homo sapiens sapiens fest, daß sie die Welt an den Rand des Verderbens gebracht hatten. Und sie erklärten dieses Unglück mit ... na, womit?«
    »Wie?«
    »Der Mensch lebte in aller Unschuld drei Millionen Jahre auf diesem Planeten, erst die Nehmer brachten alles in nur fünfhundert Generationen an den Rand des Abgrunds. Und wie erklären
    sie das?«
    »Ach, jetzt verstehe ich. Sie sagen, der Mensch sei unvollkommen, er habe einen Fehler.«
    »Sie sagen also nicht, daß die Nehmer etwas falsch machen, sondern daß der Fehler in der menschlichen Natur begründet sei.«
    »Richtig.«
    »Und was sagst du inzwischen zu dieser Erklärung?«
    »Ich beginne an ihr zu zweifeln.«
    »Gut.«
    3
    »Als die Nehmer damals in die Neue Welt einfielen und ihr Zerstörungswerk begannen, suchten die Lasser gerade nach einer Antwort auf die Frage: >Wie können wir seßhaft werden, ohne gegen das Gesetz zu verstoßen, dem wir seit Anbeginn

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