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Ismael

Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn
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unrecht. Alle Lebewesen legen sich Nahrungsvorräte an. Die meisten tun das einfach in ihrem Körper, wie die Löwen, die Rehe oder die Menschen. Andere sind nicht entsprechend ausgerüstet, sie müssen zusätzliche Nahrung außerhalb des Körpers lagern.«
    »Aha.«
    »Das Anlegen von Nahrungsvorräten an sich ist nicht verboten. Das könnte auch gar nicht anders sein, denn nur so funktioniert das ganze System: Die grünen Pflanzen sammeln Nahrung für die Pflanzenfresser, die Pflanzenfresser für die Raubtiere, und so weiter.«
    »Stimmt. Daran hatte ich nicht gedacht.«
    »Tun die Nehmer noch etwas, was in der Natur sonst nicht vorkommt?«
    »Mir ist nichts bekannt. Jedenfalls nichts, was für das Funktionieren der Lebensgemeinschaft wichtig wäre.«
    2
    »Das Gesetz, das du so gut beschrieben hast, setzt dem Existenzkampf des Lebens auf der Erde Grenzen. Jeder mag seine Fähigkeiten nach Kräften einsetzen, aber er darf weder Jagd auf seine Rivalen machen noch deren Nahrung vernichten oder sie ihnen vorenthalten. Anders ausgedrückt, er darf mit ihnen konkurrieren, aber nicht Krieg gegen sie führen.«
    »Ja. Das Gesetz hält den Frieden aufrecht, wie du gesagt hast.«
    »Und was folgt aus dem Gesetz? Was bewirkt es?«
    »Hm ... Ordnung eben.«
    »Schon, aber ich denke an etwas anderes. Was wäre geschehen, wenn das Gesetz vor zehn Millionen Jahren seine Gültigkeit verloren hätte? Wie sähe das Leben auf der Erde heute
    aus?«
    »Wie gesagt, es gäbe auf jeder Ebene der Existenz nur noch eine Lebensform. Wenn alle Weidetiere einander seit zehn Millionen Jahren bekämpft hätten, gäbe es jetzt wahrscheinlich einen Sieger. Oder es gäbe einen Sieger bei den Insekten, einen bei den Vögeln, einen bei den Reptilien und so weiter. Auf jeder Ebene einen.«
    »Das Gesetz sorgt also für was?«
    »Na ja ... für Frieden.«
    »Überlege. Worin unterscheidet sich das Leben, das du gerade beschrieben hast, vom heutigen Leben?«
    »Es gäbe nur einige Dutzend oder einige Hundert verschiedene Arten. Während wir heute Millionen von Arten haben.«
    »Das Gesetz sorgt also für was?«
    »Für Artenvielfalt .«
    »Genau. Und wozu ist diese gut?«
    »Keine Ahnung. Sie macht das Leben ... interessanter.«
    »Woran würde das Leben kranken, wenn es auf der Erde nur Gras, Gazellen und Löwen gäbe? Oder nur Reis und Menschen?«
    Ich starrte eine Weile vor mich hin. »Vermutlich wäre es ökologisch instabil und sehr störungsanfällig. Sobald die Rahmenbedingungen sich verändern würden, würde alles zusammenbrechen.«
    Ismael nickte. »Die Artenvielfalt ist eine notwendige Bedingung des Lebens selbst. Eine Lebensgemeinschaft von hundert Millionen Arten überlebt fast alles, von der totalen globalen Katastrophe einmal abgesehen. Von diesen hundert Millionen Arten könnten Hunderttausende ein weltweites Absinken der Temperatur um zwanzig Grad überleben - obwohl die Folgen verheerender wären, als es auf den ersten Blick aussieht. Genauso würden Hunderttausende überleben, wenn die Temperatur weltweit um zwanzig Grad anstiege. Eine Gemeinschaft von hundert oder tausend Arten dagegen hätte so gut wie keine Chance.«
    »Stimmt. Und genau diese Vielfalt ist gefährdet. Täglich sterben Dutzende von Arten aus, als direkte Folge der Verstöße der Nehmer gegen das Gesetz.«
    »Du weißt jetzt, daß es sich um ein Gesetz handelt. Verändert das deine Einschätzung eures Tuns?«
    »Ja. Ich halte das, was wir hier tun, nicht mehr für einen Fehler aufgrund unserer Unvollkommenheit. Wir zerstören die Welt nicht, weil wir ungeschickt sind. Wir zerstören sie, weil
    wir im buchstäblichen Sinn und mit voller Absicht Krieg gegen sie führen.«
    3
    »Wie du gesagt hast, würde die Lebensgemeinschaft auf der Erde zerstört werden, wenn sich alle Arten außerhalb der Wettbewerbsregeln stellten, die durch dieses Gesetz festgelegt werden. Aber was wäre, wenn nur eine Art das tun würde?«
    »Du meinst, eine andere Art als der Mensch?«
    »Ja. Natürlich müßte sie fast so klug und willensstark sein wie der Mensch. Stell dir vor, du wärst eine Hyäne. Warum sollst du deine Beute mit den faulen, despotischen Löwen teilen? Es passiert immer wieder: Du tötest ein Zebra, und ein Löwe kommt seines Weges, vertreibt dich und frißt selbst, während du auf die Reste warten mußt. Ist das gerecht?«
    »Ich dachte, es sei umgekehrt - die Löwen töteten die Beute und die Hyänen belästigten sie dann.«
    »Natürlich jagen Löwen auch selbst, aber

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