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Ismael

Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn
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offensichtlich - und sie unterscheidet sich von der Geschichte, die die Menschen meiner Kultur aufführen. Überall, wo es diese Völker gibt, tun sie in etwa dasselbe und leben im Grund auf dieselbe Art - genau wie wir, wenn wir uns selbst beobachten, immer in etwa dasselbe tun und auf dieselbe Weise leben.«
    »Aber wie hängt das mit dem kulturellen Erbe zusammen, das die Menschheit in den ersten drei Millionen Jahren ihrer Existenz gesammelt und überliefert hat?«
    Ich dachte einige Minuten darüber nach, dann sagte ich: »Das ist so. Die Lasser geben die Kultur so weiter, wie sie sie übernommen haben. Wir tun das nicht, weil die Begründer unserer Kultur vor zehntausend Jahren gesagt haben: >Das ist alles Unsinn, die Menschen müssen anders leben.< Also haben sie das kulturelle Erbe über Bord geworfen. Das haben sie wirklich getan, denn als ihre Nachkommen die Bühne der Geschichte betraten, war von den Vorstellungen und Ideen, die bei den Völkern der Lasser allgegenwärtig sind, nichts mehr übrig. Außerdem...«
    »Ja?«
    »Das ist ja interessant. Das ist mir bisher nie aufgefallen ... Die Völker der Lasser leben im Bewußtsein einer Tradition, die weit in die Vergangenheit zurückreicht. Wir tun das nicht. Wir sind überwiegend ein >neues< Volk. Jede Generation ist irgendwie neu und noch gründlicher von der Vergangenheit abgeschnitten als die vorhergehende.«
    »Was sagt Mutter Kultur dazu?«
    »Augenblick«, sagte ich und schloß die Augen. »Mutter Kultur sagt, daß es so richtig ist. Die Vergangenheit bringt uns nichts. Die Vergangenheit ist nur Ballast. Wir müssen sie hinter uns lassen, uns von ihr befreien.«
    Ismael nickte. »Siehst du, und deshalb leidet ihr an kulturellem Gedächtnisschwund.«
    »Was meinst du damit?«
    »Als Darwin und die Paläontologen die Menschheitsgeschichte noch nicht um drei Millionen Jahre in die Vergangenheit verlängert hatten, glaubten die Menschen deiner Kultur, der Mensch und eure Kultur seien zeitgleich entstanden - oder überhaupt identisch. Ich meine, ihr habt geglaubt, der Mensch sei von Anfang an gewesen, was er heute ist, und die Landwirtschaft sei ihm angeboren wie den Bienen das Honigsammeln.«
    »Du hast recht.«
    »Als die Menschen deiner Kultur den Jägern und Sammlern Afrikas und Amerikas begegneten, glaubten sie, daß umgekehrt diese Menschen vom natürlichen Stand des Ackerbauern degeneriert seien, also ihre angeborenen Fähigkeiten verloren hätten. Die Nehmer hatten keine Ahnung, daß sie vor ihrer Entwicklung zu Ackerbauern selbst so gewesen waren. Für sie gab es überhaupt kein >Vorher<. Die Schöpfung hatte erst vor ein paar tausend Jahren stattgefunden, und der Mensch und Ackerbauer hatte sich sofort darangemacht, die Zivilisation zu errichten.«
    »Stimmt.«
    »Begreifst du jetzt, wie es dazu kommen konnte?«
    »Wie es wozu kommen konnte?«
    »Wie es kam, daß euch die Erinnerung an die Zeit vor der Revolution so vollkommen verlorenging - so vollkommen, daß ihr nicht einmal wußtet, daß es eine solche Zeit überhaupt gab.«
    »Nein. Ich habe das Gefühl, ich müßte es verstehen, aber ich verstehe es nicht.«
    »Du hast vorhin gesagt, Mutter Kultur zufolge sei die Vergangenheit nur Ballast, von dem man sich befreien müsse.«
    »Ja.«
    »Ich will darauf hinaus, daß Mutter Kultur euch das von Anfang an eingetrichtert hat.«
    »Ach so. Jetzt verstehe ich allmählich, wie das alles zusammenhängt. Ich sagte, man habe bei den Lassern immer den Eindruck, sie seien ein Volk mit einer Vergangenheit, die bis in die graue Vorzeit zurückreicht. Bei den Nehmern hat man den Eindruck, ihre Vergangenheit reiche nur bis 1963 zurück.«
    Ismael nickte, fügte dann aber hinzu: »Zugleich darf man aber nicht vergessen, daß bei euch das Alter vielen Dingen erst ihren Wert verleiht und deshalb geachtet wird - solange es auf diese Funktion beschränkt ist. Bei den Engländern müssen zum Beispiel alle staatlichen Institutionen und Zeremonien so alt wie möglich sein, auch wenn sie es gar nicht sind. Die Engländer selber leben deshalb nicht wie die alten Briten und denken auch nicht entfernt daran, das zu tun. Dasselbe gilt für die Japaner. Sie verehren die Werte und Traditionen ihrer weisen und vortrefflichen Ahnen und beklagen deren Verschwinden, aber selber wollen sie nicht wie diese weisen, vortrefflichen Ahnen leben. Kurz gesagt, die alten Bräuche sind gut für Institutionen, Zeremonien und Feiertage, aber im Alltag haben sie nichts zu

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