Ismael
standen Klappstühle, und ich schleppte einen vor Ismaels Käfig und setzte mich.
Ismael starrte mich eine Weile an, dann fragte er, wo wir stehengeblieben seien.
»Du hast mir zuletzt gezeigt, daß die Geschichte der Genesis, die mit dem Sündenfall Adams beginnt und mit der Ermordung Abels endet, etwas ganz anderes bedeutet, als die Menschen meiner Kultur im allgemeinen annehmen. In Wirklichkeit ist es die Geschichte der landwirtschaftlichen Revolution, erzählt von den ersten Opfern dieser Revolution.«
»Und was bleibt uns deiner Meinung nach noch zu tun?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht das alles auf einen Nenner zu bringen. Ich weiß noch nicht, auf was es insgesamt hinausläuft.«
»Gut, einverstanden. Laß mich kurz nachdenken.«
6
»Was genau ist Kultur?« fragte Ismael schließlich. »Ich meine die allgemeine Bedeutung des Wortes, nicht die spezielle, die wir ihm in unseren Gesprächen gegeben haben.«
Es war die Hölle, in einem Jahrmarktzelt über eine solche Frage nachzudenken, aber ich tat mein Bestes. »Ich würde sagen, Kultur ist die Summe dessen, was ein Volk ausmacht.«
Ismael nickte. »Und wie entsteht diese Summe?«
»Ich weiß nicht genau, worauf du hinauswillst. Sie entsteht dadurch, daß ein Volk lebt.«
»Ja, aber Spatzen leben auch und haben keine Kultur.«
»Ach so, jetzt verstehe ich dich. Kultur wächst. Sie entsteht durch allmähliches Wachstum.«
»Jetzt weiß ich noch nicht, wie es zu diesem Wachstum kommt.«
»Laß mich sehen. Kultur ist die Summe, die eine Generation an die nächste weitergibt. Sie entsteht, wenn ... Wenn eine Art eine bestimmte Intelligenz hat, gibt die eine Generation ihr Wissen und ihre Technik an die nächste weiter. Die nächste Generation übernimmt das, fügt eigene Entdeckungen und Entwicklungen hinzu und gibt alles zusammen wieder an die nächste weiter.«
»Und das Ergebnis nennt man dann Kultur.«
»Ja, würde ich sagen.«
»Und Kultur ist natürlich die Summe all dessen, was überliefert wird, nicht nur Wissen und Technik. Zur Kultur gehören genauso Glaube und Aberglaube, Annahmen, Vorurteile, Theorien, Sitten, Legenden, Lieder, Geschichten, Tänze, Witze. Alles.«
»Stimmt.«
»Es mag seltsam klingen, aber der Grad der Intelligenz, den man am Anfang braucht, ist nicht besonders hoch. Wildlebende Schimpansen geben bereits an ihre Jungen weiter, wie man Werkzeuge macht und verwendet. Wie ich sehe, überrascht dich das.«
»Nein, nur ... Ich bin eigentlich nur darüber überrascht, daß du von Schimpansen sprichst.«
»Und nicht von Gorillas?«
»Ja.«
Ismael runzelte die Stirn. »Ich habe es offen gesagt immer bewußt vermieden, mich mit dem Leben wilder Gorillas zu beschäftigen. Damit möchte ich lieber nichts zu tun haben.«
Ich nickte und kam mir dumm vor.
»Auf jeden Fall, wenn schon die Schimpansen Wissen darüber weitergeben, was für Schimpansen gut ist, dann erst recht die Menschen. Seit wann tun sie das deiner Meinung nach?«
»Wahrscheinlich seit es sie gibt.«
»Eure Paläanthropologen würden dir zustimmen. Die menschliche Kultur ist so alt wie der Mensch, also wie der Homo habilis. Der Homo habilis genannte Mensch gab an seine Kinder weiter, was er gelernt hatte, und jede Generation steuerte einen Teil dazu bei, daß dieses Wissen sich vermehrte. Und wer erbte das Ganze dann?«
»Der Homo erectus?«
»Richtig. Und auch der Homo erectus gab das Wissen von Generation zu Generation weiter, und jede Generation steuerte ihren Teil zum Ganzen bei. Und wer erbte das Ganze dann?«
»Der Homo sapiens.«
»Natürlich. Und von ihm übernahm es der Homo sapiens sapiens, der es wieder von Generation zu Generation weitergab und vermehrte. Und wer erbte das Ganze dann?«
»Wahrscheinlich die Völker der Lasser.«
»Nicht die Nehmer? Warum nicht?«
»Warum nicht? Keine Ahnung. Wahrscheinlich weil ... Zur Zeit der landwirtschaftlichen Revolution erfolgte doch offensichtlich ein totaler Bruch mit der Vergangenheit. Aber die Völker, die damals nach Nord- und Südamerika auswanderten, brachen nicht mit ihrer Vergangenheit. Auch die Völker, die in Neuseeland, Australien oder Polynesien lebten, taten das nicht.«
»Wie kommst du darauf?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube es einfach.«
»Ja, aber warum glaubst du es?«
»Vielleicht deshalb: Ich weiß nicht, was für eine Geschichte diese Völker aufführen, aber ich weiß, daß es bei allen dieselbe ist. Ich kann die Geschichte noch nicht erzählen, aber es gibt sie ganz
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