Isola - Roman
graubrauner Flaum. An einer Stelle über der Brust klebte ein feucht schimmernder Blutfleck. »Es ist aus dem Nest gefallen«, flüsterte Neander.
Neben mir ertönte ein helles Piepsen. Das Vogelnest lag in einer Astgabelung, es war in Schulterhöhe, ich konnte mich darüberbeugen. Zwei kleine Köpfchen ragten heraus. Auch diese beiden Vogeljungen sperrten ihre Schnäbelchen auf, ihr rhythmisches Piepsen klang jämmerlich –und wieder schoss etwas durch meinen Kopf, diesmal war es eine Folge von Bildern, klar und scharf wie ein Wachtraum.
Ich sah zwei nackte Mädchenbeine auf einem vergammelten Sofa und ein glasklares Gefühl sagte mir, dass es meine Beine waren, aber mein Gesicht sah ich nicht. Auf dem Boden vor dem Sofa war eine Decke, starr vor Schmutz, darauf lagen zwei nackte Babys, sie rissen ihre kleinen Münder auf und schrien, nicht weit von ihnen auf den Steinen lag eine Spritze. Dann trat ein älteres Mädchen in den Raum, sie war zwölf oder dreizehn Jahre alt, trug einen kurzen gelben Rock und ein grünes T-Shirt. Ihre Kleider waren schmutzig, genau wie ihr Gesicht. Es war das Gesicht von meinem Foto, unzählige Male hatte ich seine Linien mit den Fingerspitzen abgetastet, aber jetzt wurde es zum ersten Mal lebendig. Es war, als stünde das Mädchen direkt vor mir und ihre mandelförmigen Augen strahlten wie Sterne. Sie beugte sich zu den Babys hinunter, legte ihre Hand auf die nackten Bäuche, ihre Stimme klang warm und beruhigend, aber ich verstand ihre Sprache nicht, nur ein Wort konnte ich verstehen. Esperança. Sie sah mich an und lächelte, dann verschwamm ihr Gesicht und löste sich auf.
Mir liefen Tränen die Wangen herunter.
»Es ist nur ein Vogel«, flüsterte Neander und ich nickte. »Ja. Es ist nur ein Vogel.«
Nachdem Neander das tote Tier behutsam unter einem kleinen Haufen Blätter begraben hatte, gingen wir weiter, ohne ein Wort zu sprechen. In die kühle würzige Luft des Waldes mischte sich Neanders Geruch nach Schweiß, aber er störte mich nicht, ich fand ihn menschlich, fast tröstend. In der Hand hielt Neander sein Vogelbuch und um den Hals trug er sein Fernglas. Seine Anwesenheit tat mir gut und ich fühlte, dass es ihm genauso ging. Später musste ich noch oft an diesen Augenblick denken, wir beide im Wald, unser Schweigen und die Nähe, die dadurch zwischen uns entstand.
Beng-Tschiwi … Beng-Tschiwi … Der Ruf war jetzt durchdringend und ganz in unserer Nähe. Suchend blickte ich mich um.
»Zu welchem Vogel gehört das?«, fragte ich leise.
Neander legte den Finger an die Lippen und gab mir ein Zeichen, in die Hocke zu gehen. Eine kleine Ewigkeit verharrten wir in dieser Position. Ich sah eine Gruppe von Pilzen; wie dicke gelbe Schwämme quollen sie aus dem klaffenden Spalt eines Baumstumpfes hervor. Im Schatten eines Efeus leuchteten drei schneeweiße Orchideenblüten und durch den hohlen Innenraum eines dicken Astes wimmelte eine Kolonie von Ameisen, groß wie Käfer waren sie. Auf Neanders breiter Schulter ließ sich einen Flügelschlag lang ein großer Schmetterling mit tigerfarbenen Flügeln nieder. Aber der rufende Vogel blieb unsichtbar.
»Es ist ein Bem-Te-Vi«, wisperte Neander in mein Ohr. »In Brasilien kennt ihn angeblich jedes Kind. Er soll auf den ersten Blick sehr unscheinbar sein, braune Federn, schwar-Zweißer Kopf, kaum größer als ein Spatz. Aber wenn er seine Flügel ausbreitet, zeigt er seine leuchtend gelbe Brust und in der Luft soll er aussehen wie eine fliegende Zitrone. Sein Name klingt genau wie sein Ruf, Beng-Tschiwi . Auf Deutsch heißt das Ich hab dich gesehen.«
Ich zuckte zusammen und plötzlich war der Gedanke an die Kameras wieder total real. »Das passt ja wie die Faust aufs Auge«, gab ich leise zurück.
Neander nickte lächelnd.
Wir erhoben uns und beschlossen, unsere Umgebung noch ein wenig zu erkunden. Vom Boot aus war mir die Insel flach vorgekommen, aber jetzt sah ich, dass mich mein erster Eindruck getäuscht hatte. Der Waldweg stieg von hier aus deutlich an. Vorbei an riesigen Bäumen, Lianen und Schlingpflanzen kletterten wir eine Weile lang bergauf, bis der Wald in ein breites Felsplateau überging und ich sah, dass wir uns hoch über dem Meer befanden. Insgesamt waren wir kaum mehr als einen Kilometer gelaufen, aber als ich nach Atem ringend auf der felsigen Ebene stand, kam ich mir vor, als seien wir an einem ganz anderen Ort. Die Felsen fielen jäh nach unten ab, an einigen Stellen sah ich sternförmige Pflanzen, die
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