Isola - Roman
übersehen werden.
Das schwarze Rechteck entpuppte sich als Kästchen. Es war in eine Vertiefung in der Mitte des Tisches eingelegt und der blaue Kreis auf dem schwarzen Untergrund sah tatsächlich wie ein Auge aus – oder vielmehr wie eine Iris, kristallblau mit einer stecknadelgroßen Pupille. Eine Aufschrift gab es nicht.
In diesen Sekunden, dieser winzigen Zeitspanne, bevor Milky sich über den Glastisch beugte, um das Kästchen herauszuholen, war noch alles offen. Es gab keinen Plan und keine Regeln, wir waren einfach eine Gruppe Jugendlicher auf einer kameraüberwachten Insel; uns selbst und unseren Ideen überlassen, wie wir diesen Raum und unsere Zeit darin nutzen würden.
Als ich Schritte hörte, fuhr ich erschrocken hoch. Solo war ins Zimmer gekommen. Sein dunkles Haar war frisch gewaschen, es wellte sich leicht über seinen Schultern. Er trug helle Jeans und ein weißes offenes Leinenhemd und ich weiß noch genau, wie sich das Pochen meines Herzens anfühlte, schnelle, harte Schläge, die mich verstörten, weil ich so etwas noch nie gefühlt hatte. Warum ging er mir so nah? Ich kannte ihn doch nicht einmal!
Hinter Darlings Rücken blieb er stehen und schaute über ihre Schulter auf das kristallblaue Auge.
»Was ist das?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.
»Das werden wir gleich herausfinden«, erwiderte Milky. Er sah sich im Raum um, blickte hoch zur Decke und in die Nischen, blinzelte unsicher, dann zog er das kleine Kästchen aus der Vertiefung. Durch das offene Fenster drang der fröhliche Ruf des Vogels. Beng-Tschiwi …Beng-Tschiwi …
Und dann, mit einem skeptischen Grinsen in die Runde und einem letzten tiefen Seufzer, klappte Milky den Deckel auf.
Sieben
DIE LANGEN Rastalocken fielen wie ein Vorhang über Milkys Schultern und versperrten uns die Sicht auf das Kästchen.
»Was ist drin?«, riefen Pearl und Joker wie aus einem Mund.
»Eine Karte«, murmelte Milky und zog ein schwarzes, postkartengroßes Büchlein hervor, das sich wie eine kleine Ziehharmonika auseinanderfaltete. »Oder nein, es ist ein Heft, eine Anleitung . Da steht, ich meine, was … ich versteh das nicht!«
»Mann, zeig doch mal her!« Alpha riss Milky das schwarze Faltblatt aus der Hand. Er kräuselte die Stirn. »Stimmt«, sagte er heiser. »Das ist die Anleitung für ein Spiel.«
»Ein Spiel?« Pearl kicherte nervös. »Was denn für ein Spiel?«
Auf meine Zunge legte sich ein ganz seltsamer Geschmack, süß und metallisch. Solos Augen zuckten, er sah aus, als hätte er plötzlich starke Kopfschmerzen. Er füllte seine Tasse mit Kaffee, gab vier Stücke Zucker dazu, aber bevor er trank, setzte er die Tasse wieder ab und presste beide Hände an die Schläfen.
Milky räusperte sich unentwegt.
»Sollen wir raten oder könntet ihr uns freundlicherweise darüber in Kenntnis setzen, was da steht?«, sagte Darling und kreuzte die Arme vor der Brust.
Alpha fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Da steht, wir sollen vollständig sein«, sagte er mit gerunzelter Stirn. »Und dann soll einer aus der Gruppe die Regeln vorlesen.«
»Elfe und Krys fehlen«, sagte Lung wie aus der Pistole geschossen. Verwundert sah ich in die Runde und stellte fest, dass er recht hatte. Aber so schnell wäre mir das nie aufgefallen.
»Geht jemand sie holen?«, fragte Darling, die mir plötzlich ebenfalls sehr angespannt vorkam.
Pearl und Neander liefen aus der Tür. Alpha hielt das Faltblatt die ganze Zeit in den Händen, keiner sagte etwas.
»Was ist denn los?«, platzte Elfe heraus, als sie hinter Neander in den Raum kam. Sie war ganz nass und aus ihren lila Haaren tropfte das Meerwasser auf den Holzfußboden. Krys und Pearl waren schon da. Pearl knabberte an ihrem Nugatweißbrot und Krys hatte sich eine Zigarette angezündet. Der Rauch hing wie eine graue Glocke über dem Glastisch, aber niemand sagte etwas.
»Liest du vor?«, wandte sich Alpha an Milky.
Milky sah fragend in die Runde, wir nickten ungeduldig. Elfe und Neander setzten sich zu uns an den Tisch und Milky begann zu lesen.
Acht
Zum Lesen der folgenden Spielregeln müssen alle Gruppenmitglieder versammelt sein. Die Regeln werden von einer Person laut vorgetragen. Diese Person wird von der Gruppe ausgewählt und darf während des Lesens nicht unterbrochen werden.
DER SCHAUPLATZ DER HANDLUNG
Mitten im Pazifik liegt eine einsame Insel. Sie trägt den Namen Isola . Hier treffen zwölf Jugendliche für unbestimmte Zeit aufeinander.
Einer dieser Jugendlichen wird
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