Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)
letztlich doch verweigerte. Der Roman erschien im April 1916, zu einer Zeit, da Kafka schon seit langem unproduktiv war und sich auch zur geringfügigsten schriftstellerischen Arbeit unfähig fühlte, was indessen Weiß als Ausflucht empfand. »Wir wollen nichts mehr miteinander zu tun haben, solange es mir nicht besser geht«, schrieb Kafka an Felice Bauer. »Eine sehr vernünftige Lösung.«
In den Nachkriegsjahren kam es zwar zu einer halbherzigen Versöhnung der beiden Schriftsteller, doch Weiß’ latente Feindseligkeit gegenüber Kafka war damit nicht ausgeräumt und nahm nach dessen Tod wiederum zu. So versicherte er dem Kafka-Verehrer Soma Morgenstern, Kafka habe sich ihm gegenüber verhalten »wie ein Schuft«. Und noch in den dreißiger Jahren porträtierte Weiß in der Zeitschrift Mass und Wert den früheren Freund als sozialen Autisten, bei aller Wertschätzung seines literarischen Werks.
Ernst Weiß
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Welche Farbe hatten Kafkas Augen?
Von Kafkas Augen fühlten sich etliche Zeitzeugen stark beeindruckt. Um so auffallender, dass selbst diejenigen, die Kafka am nächsten standen, die Farbe seiner Augen völlig unterschiedlich wahrnahmen. Die von Hans-Gerd Koch gesammelten Erinnerungen »Als Kafka mir entgegenkam …« (Berlin 1995/2005) und andere Zeugenaussagen ergeben keine eindeutige Mehrheit:
DUNKEL (4 Stimmen):
»der Blick seiner dunklen Augen fest und doch warm« (Felix Weltsch)
»sah mich aus seinen dunklen Augen, die stets so wehmütig, eigentlich unjugendlich blickten, an« (Anna Lichtenstein)
»seinem dunklen Blick« (Michal Mareš)
»dunkle Augen« (Alois Gütling)
GRAU (4 Stimmen):
»ich blieb tief beeindruckt von den stahlgrauen Augen Kafkas und ihrem tiefen Blick« (Miriam Singer)
»Kafka hatte große graue Augen« (Gustav Janouch)
»die Augen kühn, blitzend grau« (Max Brod)
»graue Augen« (Václav Karel Krofta)
BLAU (3 Stimmen):
»mit seinen stahlblauen Augen« (Dora Geritt)
»sah ich, dass seine dunklen Augen blau waren« (Fred Bérence)
»tiefblaue Augen« (Tile Rössler)
BRAUN (3 Stimmen):
»Er hatte braune, schüchterne Augen, in denen es aufleuchtete, wenn er sprach.« (Dora Diamant)
»mit seinen schönen braunen Augen« (Christine Geyer, geb. Busse)
»Er hatte schöne, große, braune Augen.« (Alice Herz-Sommer)
Eine diplomatische Lösung dieser Widersprüche bietet Kafkas Reisepass. Dort ist als Augenfarbe vermerkt:
DUNKELBLAUGRAU.
Emotionen
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Worüber Kafka weinen muss
Mich erschreckt Weinen ganz besonders. Ich kann nicht weinen. Weinen anderer kommt mir wie eine unbegreifliche fremde Naturerscheinung vor. Ich habe im Laufe vieler Jahre nur vor zwei, drei Monaten einmal geweint, da hat es mich allerdings in meinem Lehnsessel geschüttelt, zweimal kurz hintereinander, ich fürchtete mit meinem nicht zu bändigendem Schluchzen die Eltern nebenan zu wecken, es war in der Nacht und die Ursache war eine Stelle meines Romans.
Tatsächlich gehörte es zu Kafkas Eigenheiten, dass er sich vom Schicksal anderer Menschen viel leichter rühren ließ als vom eigenen Leid – und zwar unabhängig davon, ob es sich um reale oder fiktive Personen handelte. Das bestärkte Kafka in seiner Empfindung, am wirklichen Leben gar nicht teilzunehmen. »Das Geniessen menschlicher Beziehungen ist mir gegeben, ihr Erleben nicht«, schrieb er 1913 an seine Verlobte Felice Bauer, nachdem ein Kinofilm ihn zum Weinen gebracht hatte. Da ihm – inmitten einer schweren Krise – nur zwei Wochen später in einem anderen Kino das Gleiche widerfuhr, liegt freilich die Vermutung nahe, dass die traurigen Szenen ihm lediglich einen emotionalen Zugang zur eigenen Trauer öffneten.
In zwei Fällen lassen sich Lektüreerlebnisse, die Kafka weinen ließen, genauer bestimmen. »Geschluchzt über dem Processbericht einer 23jähr. Marie Abraham«, notierte er im Tagebuch, »die ihr fast ¾ Jahre altes Kind Barbara wegen Not und Hunger erwürgte mit einer Männerkrawatte, die ihr als Strumpfband diente und die sie abband. Ganz schematische Geschichte.«
Auffallend ist hier der Begriff »schematisch«, mit dem man doch eher die Qualität eines plots beschreiben würde. Doch das sozial tausendfach durchgespielte Schema machte diese »Geschichte« für Kafka ebenso trostlos wie einen billigen Roman. Das empfanden wohl auch die Geschworenen des Prozesses so. Denn wie im ausführlichen Bericht des Prager Tagblatt nachzulesen (am Vorabend von Kafkas 30. Geburtstag), sprachen sie das Dienstmädchen nicht
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