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Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)

Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)

Titel: Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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einander zu kennen. Es ist ein Gastmahl, das jeder nach seinem eigenen Geschmack, für seine Person bestimmen kann, ohne daß er irgendwem beschwerlich fällt. Man kann erscheinen und wieder verschwinden, wenn es einem beliebt, ist keinem Hauswirte verpflichtet und ist doch, ohne Heuchelei, immer gern gesehen. Als es zum Schluß tatsächlich gelingt, die skurrile Idee in Wirklichkeit umzusetzen, erkennt der Leser, daß auch dieser Versuch zur Erlösung des Einsamen nur – den Erfinder des ersten Kaffeehauses hervorgebracht hat.

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    Die Broskwa-Skizze
Es ist möglich, dass es noch nördlicher gelegene europäische Ansiedlungen gibt als Broskwa, aber verlassener kann keine sein. Nach einigen Menschenaltern wird Broskwa vielleicht eine wichtige und lebhafte Stadt sein, wenn nämlich ein 100 km entfernter natürlicher Hafen von Eisbrechern freigelegt sein wird und wenn die Bahn, die man von Gradula 300 km südlich von Broskwa zu bauen beabsichtigt, bis nach Broskwa geführt sein wird. Aber mit dem allen haben die Lebenden nicht zu rechnen. Wir in Broskwa müssen uns damit begnügen auf den Marktplatz mit den paar Strohhütten eingeschränkt zu bleiben und Sendungen und Nachrichten von auswärts im Sommer zwei oder auch dreimal im Monat, im Winter aber gar nicht zu bekommen. Ich könnte wenn ich einmal nach Europa zurückkäme, viel erzählen, aber ich werde nicht zurückkommen. Es ist merkwürdig, der Mensch muss nur ein wenig an einem Ort niedergehalten werden und schon fängt er an zu versinken. Man sollte meinen, ich strebe nach nichts anderem als von hier fortzukommen, durchaus nicht. Einmal hätte ich Gelegenheit gehabt, mit Brascha, dem Postboten, bei besonders guter Bespannung nach Gradula zu fahren, die Fahrt wäre für mich wegen verschiedener Einkäufe sogar wichtig gewesen, man bat mich förmlich zu fahren, ich überlegte es einen Tag und überliess dann den Platz einem anderen.

    Diese Prosaskizze findet sich auf der Rückseite eines einzelnen Blattes, das Kafka 1922 für den Roman Das Schloss verwendete. Es stammt ursprünglich aus dem ›Zehnten Tagebuchheft‹, das er von November 1914 bis Mai 1915 benutzte und in dem einige Seiten leer geblieben waren. Da außerdem Kafka im selben Winter ein längeres, thematisch eng verwandtes Fragment niederschrieb ( Erinnerungen an die Kaldabahn ), ist anzunehmen, dass auch die Broskwa-Skizze aus diesem Zeitraum stammt.
    Zeitweilige Aufmerksamkeit erregte Kafkas Text im Jahr 2007, nachdem er – ohne Angabe des Verfassers – vier Lektoren zur Begutachtung vorgelegt worden war. Deren vielfältige Verbesserungsvorschläge wurden von der Leipziger Literaturzeitschrift Edit veröffentlicht.

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    In den Direktionskanzleien (I)
Banz, der Direktor der Versicherungsgesellschaft ›Fortschritt‹, sah den Mann, der vor seinem Schreibtisch stand und sich um eine Dienerstelle bei der Gesellschaft bewarb, zweifelnd an. Hie und da las er auch in den Papieren des Mannes, die vor ihm auf dem Tische lagen. »Lang sind Sie ja«, sagte er, »das sieht man, aber was sind Sie sonst? Bei uns müssen die Diener mehr können, als Marken lecken, und gerade das müssen Sie nicht können, weil solche Sachen bei uns automatisch gemacht werden. Bei uns sind die Diener halbe Beamte, sie haben verantwortungsvolle Arbeit zu leisten, fühlen Sie sich dem gewachsen? Sie haben eine eigentümliche Kopfbildung. Wie Ihre Stirn zurücktritt. Sonderbar! Welches war denn Ihr letzter Posten? Wie? Sie haben seit einem Jahr nichts gearbeitet? Warum denn? Wegen Lungenentzündung? So? Nun, das ist nicht sehr empfehlend, wie? Wir können natürlich nur gesunde Leute brauchen. Ehe Sie aufgenommen werden, müssen Sie vom Arzt untersucht werden. Sie sind schon gesund? So? Gewiss, das ist ja möglich. Wenn Sie nur lauter reden würden! Sie machen mich ganz nervös mit Ihrem Lispeln. Hier sehe ich auch, dass Sie verheiratet sind, vier Kinder haben. Und seit einem Jahr haben Sie nichts gearbeitet! Ja, Mensch! Ihre Frau ist Wäscherin? So! Nun ja. Da Sie jetzt schon einmal hier sind, lassen Sie sich gleich vom Arzt untersuchen, der Diener wird Sie hinführen. Daraus dürfen Sie aber nicht schließen, dass Sie angenommen werden, selbst wenn das Gutachten des Arztes günstig ist. Durchaus nicht. Eine schriftliche Verständigung bekommen Sie jedenfalls. Um aufrichtig zu sein, will ich Ihnen gleich sagen: Sie gefallen mir gar nicht. Wir brauchen ganz andere Diener. Lassen Sie sich aber jedenfalls untersuchen. Gehn

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