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Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)

Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)

Titel: Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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inserierte, wollte er es besser machen und formulierte den Text so um, dass grammatische Missverständnisse ausgeschlossen waren (untere Abbildung). Diese Version erschien in der Neuen Freien Presse dreimal im November 1920.
    Ob die Inserate Erfolg hatten, ist nicht überliefert; es ist jedoch zweifelhaft, da sich Milena Jesenská ab Winter 1920/21 ganz auf ihre Tätigkeiten als Journalistin und Übersetzerin konzentrierte.

40
    Kafka-Lesung als Körperverletzung?
    Am Abend des 10. November 1916 las Kafka in der Buchhandlung und Galerie Goltz in München seine noch unveröffentlichte Erzählung In der Strafkolonie neben einigen Gedichten seines Freundes Max Brod. Diese Lesung im Rahmen einer Serie von ›Abenden für neue Litteratur‹ war die einzige, die Kafka jemals außerhalb von Prag bestritt. Unter den etwa fünfzig Zuhörern, die sich in einem ungeheizten Raum im Obergeschoss der Galerie versammelten, befanden sich die Schriftsteller Gottfried Kölwel, Eugen Mondt und Max Pulver sowie Kafkas Verlobte Felice Bauer, die eigens aus Berlin angereist war. Auch Rainer Maria Rilke war vermutlich anwesend.
    Dem Bericht Pulvers zufolge, der erstmals 1953 veröffentlicht wurde, nahm diese Lesung einen höchst bemerkenswerten Verlauf:
Ein dumpfer Fall, Verwirrung im Saal, man trug eine ohnmächtige Dame hinaus. Die Schilderung ging inzwischen fort. Zweimal noch streckten seine Worte Ohnmächtige nieder. Die Reihen der Hörer und der Hörerinnen begannen sich zu lichten. Manche flohen im letzten Augenblick, bevor die Vision des Dichters sie überwältigte. Niemals habe ich eine ähnliche Wirkung von gesprochenen Worten beobachtet.

»Galerie Goltz, München«.
    Dieser Bericht ist der Ursprung einer der beliebtesten, weil dämonischsten Kafka-Legenden, ungeachtet der Tatsache, dass es sich offenkundig um eine Slapstick-Phantasie handelt. Ein Dichter, der ungerührt weiterliest, während seine Zuhörer teils hinausgetragen werden, teils auf eigenen Beinen fliehen – kaum vorstellbar, dass die Presse sich einen derartigen Vorfall hätte entgehen lassen.
    Tatsächlich gibt es aber in den drei bekannt gewordenen Besprechungen des Abends nur vage Hinweise auf negative Reaktionen der Zuhörer: »Das Publikum konnte zum Teil die übermäßige Nervenanspannung nicht durchhalten, zum Teil, aus derberem Holz geschnitzt, schien es befriedigt.« »… stofflich abstoßend, was auch die Zuhörerschaft wohl zu erkennen gab.« Max Brod hat in den ›Ergänzungen‹ zu seiner Kafka-Biographie die Geschichte dementiert: Kafka habe ihm über die Münchner Lesung ausführlich erzählt, von ohnmächtigen Zuhörern jedoch nichts verlauten lassen.
    Kafka fühlte sich von dem 26jährigen Max Pulver, der ihn nach der Lesung in Beschlag nahm, »eine Zeitlang geradezu betört«, wie er Gottfried Kölwel in einem Brief gestand. Offenbar zählte Pulver mit seinem Faible für Graphologie, Astrologie und Gnostik zu jenem Typus besessener Traumwandler, für die Kafka zeitlebens besondere Sympathien hegte – selbst dann noch, wenn sie versuchten, ihn zu missionieren. Insofern wäre sein Kommentar zu Pulvers Phantasien vermutlich milde-ironisch ausgefallen.

41
    Eine ungeschriebene Erzählung
    Aus unvollendeten Werken – vor allem aus den drei Romanen – las Kafka regelmäßig seinen Freunden und vermutlich auch der Schwester Ottla vor. Über literarische Projekte hingegen, die noch in den Anfängen waren oder die er noch gar nicht in Angriff genommen hatte, schwieg er gewöhnlich.
    Eine seltene Ausnahme ist die erzählerische Idee, die er im Januar 1918 gegenüber dem Schriftsteller Oskar Baum preisgab, einem seiner nächsten Freunde. Baum besuchte Kafka im nordwestböhmischen Dorf Zürau (Siřem), wo Ottla einen kleinen Hof bewirtschaftete und wo sie über den Winter auch ihren an Tuberkulose erkrankten Bruder beherbergte. Da hier Baum und Kafka im selben Zimmer nächtigten, ergab sich die Gelegenheit zu langen Gesprächen, und Baum hat später berichtet, in jener einen Woche habe er über Kafka mehr erfahren als in den zehn Jahren zuvor und den fünf Jahren danach. Auch habe Kafka ihm von zahlreichen literarischen Entwürfen und Plänen erzählt, »ohne die Hoffnung, ja ohne die Absicht, sie je auszuführen«. An eine dieser ungeschriebenen Erzählungen erinnerte sich Baum genau:
Ein Mann will die Möglichkeit einer Gesellschaft schaffen, die zusammenkommt, ohne eingeladen zu sein. Menschen sehen und sprechen und beobachten einander, ohne

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