Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)
Bauunternehmer einen Jungen aussuchen, der genügend zuverlässig war sowohl hinsichtlich seiner Kraft, als auch seiner Geschicklichkeit, als auch hinsichtlich dessen, dass er nach Erledigung des Auftrages das Boot nicht zu unerlaubten Spazierfahrten benutzt, sondern gleich zurückkommt. Das alles also glaubte er in mir zu finden. Der grosse Trnka (der Besitzer der Schwimmschule, von dem ich Dir noch erzählen muss) kam hinzu und fragte ob der Junge schwimmen könne. Der Schwimmeister, der mir wahrscheinlich alles ansah, beruhigte ihn. Ich hatte überhaupt kaum ein Wort gesprochen. Nun kam der Passagier und wir fuhren ab. Als artiger Junge sprach ich kaum. Er sagte, dass es ein schöner Abend sei, ich antwortete: ano [ja] dann sagte er, dass es aber schon kühl sei, ich sagte: ano, schliesslich sagte er, dass ich sehr rasch fahre, da konnte ich vor Dankbarkeit nichts mehr sagen. Natürlich fuhr ich in bestem Stil bei der Judeninsel vor, er stieg aus, dankte schön, aber zu meiner Enttäuschung hatte er das Trinkgeld vergessen (ja, wenn man kein Mädchen ist) Ich fuhr schnurgerade zurück. Der grosse Trnka war erstaunt, dass ich so bald zurück war. – Nun, so aufgebläht vor Stolz war ich schon lange nicht wie an diesem Abend, ich kam mir Deiner um ein ganz winziges Stückchen, aber doch um ein Stückchen mehr wert vor als sonst. Seitdem warte ich jeden Abend auf der Schwimmschule ob nicht wieder ein Passagier kommt, aber es kommt keiner mehr.
Zum Zeitpunkt dieses anekdotischen Erlebnisses, im Sommer 1920, war Kafka bereits 37 Jahre alt, wurde jedoch wegen seines mageren, knabenhaften Körpers offenbar von gleich mehreren Personen für einen Jugendlichen gehalten. Als noch kurioser erscheint der Vorfall, bedenkt man, dass Kafka nicht nur promovierter Jurist und Abteilungsleiter, sondern auch ein sehr geübter Schwimmer und Ruderer war, der jahrelang sogar ein eigenes Boot auf der Moldau besaß – keineswegs selbstverständlich zu einer Zeit, da noch viele Erwachsene Nichtschwimmer waren und Rudern als unbürgerlich galt.
Allerdings hatte die Geschichte auch einen makabren Zug, wie der Adressatin des Briefs, Milena Jesenská, sicherlich bewusst war. Denn seit drei Jahren litt Kafka an Lungentuberkulose, und bereits beim schnellen Gehen machte sich diese Krankheit mit Atemnot bemerkbar. Das flotte Rudern muss für Kafka äußerst strapaziös gewesen sein, und dass er sich während der Überfahrt mit seinem Passagier nicht unterhalten konnte, ist daher nicht verwunderlich.
Die ›Schwimmschule‹ war eine von Kafka häufig aufgesuchte öffentliche Flussbadeanstalt an der Sophieninsel (heute Slovanský ostrov), die ›Judeninsel‹ (heute Dětský ostrov)liegt unmittelbar gegenüber am linken Ufer der Moldau. Der »Hauptehrentag« spielt darauf an, dass Milena Jesenská am Tag dieses Briefes 24 Jahre alt wurde; der kleine Seitenhieb wegen des Trinkgelds (»ja, wenn man kein Mädchen ist«) bezieht sich darauf, dass Milena als Gepäckträgerin am Wiener Westbahnhof gute Trinkgelder bekommen hatte.
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Selbstgespräch des Onkel Franz
Selbstgespräch des Onkel Franz
Ist es nicht zu schade ein
gar so schönes Buch der Gerti
zum Geburtstag zu schenken?
Nein, denn erstens ist sie
ein ausgezeichnetes Mädchen und
zweitens wird sie das Buch einmal
hier vergessen und dann kann
man es sich wieder zurücknehmen
Widmung Kafkas an Gerti Hermann, das zweite Kind seiner Schwester Elli und deren Ehemann Karl Hermann.
Der Text wurde niedergeschrieben auf dem zweiten Vorsatzblatt eines Exemplars von: Ludwig Bechstein, Ausgewählte Märchen. Mit Bildern nach den Ludwig Richter’schen Originalholzschnitten im Erstdruck. I. Sammlung. München (Phoebus Verlag) 1919.
Gerti Hermann, die am 8. November 1912 geboren wurde, hat demnach dieses Geschenk von »Onkel Franz« frühestens zu ihrem 7. Geburtstag erhalten. Die Märchensammlung fand sich später in Kafkas kleiner Bibliothek, in die sie vermutlich erst nach seinem Tod geraten war. Gerti Hermann starb im Jahr 1972. – Siehe auch das Fundstück 93: ›Erinnerungen an Onkel Franz‹.
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Kafka erfindet den Anrufbeantworter
Es wird eine Verbindung zwischen dem Telephon und dem Parlographen erfunden, was doch wirklich nicht so schwer sein kann. Gewiss meldest Du mir schon übermorgen, dass es gelungen ist. Das hätte natürlich ungeheuere Bedeutung für Redaktionen, Korrespondenzbureaux u.s.w. Schwerer, aber wohl auch möglich, wäre eine Verbindung zwischen Grammophon
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