Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)
Sitzreihen – erhob sich der Dicke gegenüber und hielt eine Rede. Warum nur der Mann so traurig war! Während der Rede betupfte er mit dem Taschentuch das Gesicht, das wäre ja hingegangen, bei seiner Dicke, der Hitze im Saal, der Anstrengung des Redens wäre das verständlich gewesen, aber ich merkte deutlich, dass das Ganze nur eine List war, die verbergen sollte, dass er sich die Tränen aus den Augen wischte. Nachdem er geendet hatte, stand natürlich ich auf und hielt auch eine Rede. Es drängte mich geradezu zu sprechen, denn manches schien mir hier und wahrscheinlich auch anderswo der öffentlichen und offenen Aufklärung bedürftig, darum begann ich:
Geehrte Festgäste! Ich habe zugegebener massen einen Weltrekord, wenn Sie mich aber fragen würden wie ich ihn erreicht habe, könnte ich Ihnen nicht befriedigend antworten. Eigentlich kann ich nämlich gar nicht schwimmen. Seitjeher wollte ich es lernen, aber es hat sich keine Gelegenheit dazu gefunden. Wie kam es nun aber, dass ich von meinem Vaterland zur Olympiade geschickt wurde? Das ist eben auch die Frage die mich beschäftigt. Zunächst muss ich feststellen, dass ich hier nicht in meinem Vaterland bin und trotz grosser Anstrengung kein Wort von dem verstehe was hier gesprochen wird. Das naheliegendste wäre nun an eine Verwechslung zu glauben, es liegt aber keine Verwechslung vor, ich habe den Rekord, bin in meine Heimat gefahren, heisse so wie Sie mich nennen, bis dahin stimmt alles, von da ab aber stimmt nichts mehr, ich bin nicht in meiner Heimat, ich kenne und verstehe Sie nicht. Nun aber noch etwas, was nicht genau, aber doch irgendwie der Möglichkeit einer Verwechslung widerspricht: es stört mich nicht sehr, dass ich Sie nicht verstehe und auch Sie scheint es nicht sehr zu stören, dass Sie mich nicht verstehen. Von der Rede meines geehrten Herrn Vorredners glaube ich nur zu wissen dass sie trostlos traurig war, aber dieses Wissen genügt mir nicht nur, es ist mir sogar noch zuviel. Und ähnlich verhält es sich mit allen Gesprächen, die ich seit meiner Ankunft hier geführt habe. Doch kehren wir zu meinem Weltrekord zurück
Entstanden ist dieses Fragment wahrscheinlich am 28. August 1920 in Prag. Es ist überliefert im sogenannten ›Konvolut 1920‹, das aus 51 losen Blättern besteht.
Bemerkenswert sind die von Kafka am Anfang des Textes vorgenommenen Korrekturen. Statt »Ich kam von der Olympiade in X, wo ich einen Weltrekord im Schwimmen« hieß es im Manuskript zunächst: »Ich kam von der Olympiade in Antwerpen, wo ich den Weltrekord im Schwimmen über 1500«.
Die Olympischen Sommerspiele des Jahres 1920 fanden tatsächlich in Antwerpen statt, die Finals der Schwimmwettbewerbe vom 24.–26. August. Das bedeutet, dass Kafka das Fragment wohl sofort nach Bekanntwerden der Resultate niederschrieb. Sieger über 1500 m sowie 400 m Freistil wurde der 24jährige US-Amerikaner Norman Ross, der anschließend über 100 m Freistil (siehe Abbildung) disqualifiziert wurde …
Das Vorbild: Norman Ross auf Bahn 3
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Kafka lässt sich in den April schicken
Am 1. April 1921 erschien im Feuilleton der angesehenen Brünner Zeitung Lidové Noviny ein Artikel mit der Überschrift ›Léčení tuberkulosy Einsteinovým principem relativity?‹ (›Behandlung der Tuberkulose nach dem Einstein’schen Relativitätsprinzip?‹). Darin wurde berichtet, ein Berliner »Professor Dr. med. F. Wergeist« habe vorgeschlagen, die von Einstein bewiesene Veränderung der Längenmaße bei bewegten Körpern zur Heilung Tuberkulosekranker auszunutzen: Auf einem Schiff, das ständig nach Osten fährt, würden die Patienten zunehmen (was damals als wesentliche Voraussetzung der Heilung betrachtet wurde). Weiterhin sei es zu einer wissenschaftlichen Kontroverse mit einem Münchener »Professor Kropfmeier« gekommen, der eine andere Fahrtrichtung für bekömmlicher hielt. Wergeist habe daraufhin eine konkrete Route ausgearbeitet, die ein allmähliches Zu- und Abnehmen ermöglicht: Triest, Suez-Kanal, Indischer Ozean, Stiller Ozean, Panama-Kanal, Kanarische Inseln. In Prag sei bereits eine Firma gegründet worden, welche die entsprechenden Sanatoriumsschiffe in Betrieb nehmen wird. Es sei vorgesehen, Patienten, die sich die Anti-Tuberkulose-Fahrten nicht leisten können, mit Stipendien zu unterstützen.
Als dieser makabre Unsinn publiziert wurde, befand sich der tuberkulosekranke Kafka bereits seit mehreren Monaten im Kurort Matliary in der Hohen Tatra
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