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Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)

Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)

Titel: Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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zweimal zum Anlass, um Unterschriften nachzuahmen: einmal die Unterschrift Margarethe Kirchners, in die er sich verliebt hatte (siehe Fundstück 67), daneben aber auch die Unterschrift eines anderen, schon damals sehr prominenten Besuchers: Thomas Mann.
    Kafkas Versuch findet sich auf einem Notizblock, den er während der Reise nach Weimar benutzte und auf dem er überwiegend Stichworte notierte, teilweise in stenographischer Schrift. Obwohl zu vermuten ist, dass er die Unterschrift Thomas Manns in einem der Gästebücher gesehen hatte, die an den Weimarer Goethe-Orten auslagen, konnte diese Originalunterschrift bisher nicht aufgefunden werden. Wahrscheinlich betrachtete Kafka jedoch seinen Versuch als misslungen, denn er strich den nachgeahmten Schriftzug wieder aus.
    Die Abbildungen zeigen die von Kafka selbst durchgestrichene ›Fälschung‹ sowie den digital rekonstruierten Schriftzug Kafkas ohne die Streichung.

69
    Das phantastische Stubenmädchen
Als Dank für das schöne Buch, das ich Ihrer gütigen Vergesslichkeit verdanke, erlaube ich mir Ihnen dieses vielleicht noch schönere Buch zu überreichen, das Sie gewiss zu seiner Zeit auch in irgendeinem passenden Hotelnachttisch liegen zu lassen belieben werden.
Mögen Sie, gutes Fräulein, so fortfahren, Freude zu verbreiten unter uns armen Stubenmädchen.
Die Anna vom Schützenhaus
Karlsbad
19.II 19
    Eines der zahlreichen philologischen Rätsel, die Kafka hinterlassen hat, denn die Adressatin dieser Zeilen ist unbekannt. Es handelt sich um eine Widmung, unzweifelhaft in Kafkas Handschrift, eingetragen in einen schmalen Band: Ludwig Richter, Beschauliches und Erbauliches . Ausgewählt und eingeleitet von Georg Jacob Wolf. Mit 29 Bildern. Delphin-Verlag, München o.J. (1.-30. Tausend), erschienen 1918/19.
    In Kafkas Umgebung kommen – soweit wir wissen – nur drei »Fräuleins« in Frage, für die eine solche vertraulich-humoristische Widmung bestimmt gewesen sein könnte: seine spätere Geliebte Julie Wohryzek, seine Schwester Ottla und seine 30jährige Cousine Irma, die mit Ottla eng befreundet war und die lange im Galanteriewarengeschäft Hermann Kafkas arbeitete.
    Am angegebenen Datum 19. Februar 1919 hielten sich Kafka und Julie Wohryzek in einer Pension in Schelesen nördlich von Prag auf; dort hatten sie sich wenige Wochen zuvor kennengelernt. Doch gegen Julie als Adressatin spricht, dass das Buch im Nachlass Ottlas überliefert wurde.
    Ottla selbst befand sich zu diesem Zeitpunkt im nordböhmischen Friedland, um an einer Landwirtschaftsschule einen Kursus zu absolvieren. Da sie sich mitten in Prüfungsvorbereitungen befand, kann sie Kafka nicht in Schelesen besucht haben. Denkbar wäre, dass ihr Kafka das kartonierte Bändchen, das bequem in einen Briefumschlag passte, nach Friedland schickte. Allerdings lässt sich für die Monate zuvor kein Aufenthalt Ottlas in Karlsbad nachweisen.
    Ob Irma Kafka im fraglichen Zeitraum im ›Grand-Hotel Schützenhaus‹ in Karlsbad logierte, wissen wir ebenfalls nicht. Sollte sie die Adressatin gewesen sein, so wäre immerhin plausibel, warum das Buch in den Besitz Ottlas überging. Denn Irma starb bereits drei Monate später, am 29. Mai, an der Spanischen Grippe. Und Ottla bewahrte alles, was von der Hand ihres Bruders stammte.

70
    Kafka als Ghostwriter
Als wir in Berlin waren, ging Kafka oft in den Steglitzer Park. Ich begleitete ihn manchmal. Eines Tages trafen wir ein kleines Mädchen, das weinte und ganz verzweifelt zu sein schien. Wir sprachen mit dem Mädchen. Franz fragte es nach seinem Kummer, und wir erfuhren, daß es seine Puppe verloren hatte. Sofort erfindet er eine plausible Geschichte, um dieses Verschwinden zu erklären: »Deine Puppe macht nur gerade eine Reise, ich weiß es, sie hat mir einen Brief geschickt.« Das kleine Mädchen ist etwas mißtrauisch: »Hast du ihn bei dir?« »Nein, ich habe ihn zu Haus liegen lassen, aber ich werde ihn dir morgen mitbringen.« Das neugierig gewordene Mädchen hatte seinen Kummer schon halb vergessen, und Franz kehrte sofort nach Hause zurück, um den Brief zu schreiben.
Er machte sich mit all dem Ernst an die Arbeit, als handelte es sich darum, ein Werk zu schaffen. Er war in demselben gespannten Zustand, in dem er sich immer befand, sobald er an seinem Schreibtisch saß, ob er nun einen Brief oder eine Postkarte schrieb. Es war übrigens eine wirkliche Arbeit, die ebenso wesentlich war wie die anderen, weil das Kind um jeden Preis vor der Enttäuschung

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