Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)
›Arbeitergemeinschaften von Besitzlosen‹ gäbe, jede von ihnen auf fünfhundert Menschen beschränkt, die sich verpflichteten, kein Geld und keinen Wertgegenstand zu besitzen oder anzunehmen, das einfachste Leben zu führen, nur für einen lebenserhaltenden Lohn zu arbeiten, und doch mit dem Gebot, diese Arbeit gut zu vollenden und sie der Welt als Akt des Vertrauens und des Glaubens anderen gegenüber darzustellen. Was hier von der beruflichen Aktivität im Allgemeinen erwartet wird, das müsste man unverzüglich von der intellektuellen Aktivität fordern können.«]
Andernorts
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Kafka kennt sich in Amerika nicht aus
Es ist charakteristisch für Kafkas erzählerische Prosa, dass örtliche und zeitliche Bestimmungen zumeist unscharf bleiben und der Leser daher unter dem Eindruck steht, alles spiele sich in einem gespenstischen Zwischenreich, einem Nirgendwo ab – wie im Traum. So wird niemals der Name der Stadt genannt, in der sich Der Process vollzieht, und auch das Dorf am Fuß des Schlosses bleibt namenlos.
Die einzige bedeutsame Ausnahme von dieser Regel ist der 1912/13 entstandene Roman Der Verschollene . Obwohl Kafka die USA nur aus Reisebüchern, Vorträgen und mündlichen Berichten kannte, hatte er sich dennoch vorgenommen, »das allermodernste New Jork« zu schildern, wie er gegenüber seinem Verleger Kurt Wolff bekannte. Daher sind viele Örtlichkeiten korrekt benannt, und bemerkenswerterweise ist Der Verschollene auch der einzige erzählerische Text Kafkas, in dem ausdrücklich von Prag die Rede ist.
Umso auffallender, dass Kafka im Manuskript dieses Romans einige sonderbare Irrtümer unterliefen. Offenbar machte er sich bei seinen Recherchen keine systematischen Notizen, sondern verließ sich auf sein Gedächtnis: So kam es, dass er etwa eine wiederholt falsche Schreibweise aus Arthur Holitschers sozialkritischer Reportage Amerika – heute und morgen ungeprüft übernahm und »Oklahama« anstelle von »Oklahoma« schrieb. Auch ist von einer Brücke die Rede, »die New York mit Boston verbindet« und »über den Hudson« führt – wobei Kafka natürlich die von zahlreichen Abbildungen bekannte Brooklyn Bridge über den East River vor Augen hatte. Schließlich verlegte er San Francisco auf die falsche Seite des Kontinents: Sein junger Protagonist Karl Rossmann wird zu einer Reise nach »Frisco« gedrängt, da für ihn »die Erwerbsmöglichkeiten im Osten viel bessere« seien.
Die erstaunlichste und offenbar gewollte Abweichung seiner Romanwelt von der Wirklichkeit findet sich indessen schon im ersten Absatz: Die Freiheitsstatue, die alle New York-Reisenden begrüßt, reckt bei Kafka keine Fackel, sondern ein Schwert in den Himmel. Da dieses Kapitel des Verschollenen separat unter dem Titel Der Heizer (1913) veröffentlicht wurde, fiel der krasse ›Fehler‹ auch Freunden und Kritikern auf, so dass Kafka Gelegenheit gehabt hätte, den Text in den späteren, neu gesetzten Auflagen zu korrigieren. Er unterließ es.
Brooklyn Bridge, 1909
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Ein Autounfall in Paris
Auf dem Asphaltpflaster sind die Automobile leichter zu dirigieren aber auch schwerer einzuhalten. Besonders wenn ein einzelner Privatmann am Steuer sitzt, der die Grösse der Strassen, den schönen Tag, sein leichtes Automobil, seine Chauffeurkenntnisse für eine kleine Geschäftsfahrt ausnützt und dabei an Kreuzungsstellen sich mit dem Wagen so winden soll, wie die Fussgänger auf dem Trottoir. Darum fährt ein solches Automobil knapp vor der Einfahrt in eine kleine Gasse noch auf dem grossen Platz in ein Tricykle hinein, hält aber elegant, tut ihm nicht viel, tritt ihm förmlich nur auf den Fuss, aber während ein Fussgänger mit einem solchen Fusstritt desto rascher weiter eilt, bleibt das Tricykle stehn und hat das Vorderrad verkrümmt. Der Bäckergehilfe, der auf diesem der Firma – gehörigen Wagen bisher vollständig sorglos mit jenem den Dreirädern eigentümlichen schwerfälligen Schwanken dahingefahren ist, steigt ab, trifft den Automobilisten, der ebenfalls absteigt und macht ihm Vorwürfe, die durch den Respekt vor einem Automobilbesitzer gedämpft und durch die Furcht vor seinem Chef angefeuert werden. Es handelt sich nun zuerst darum zu erklären, wie es zu dem Unfall gekommen. Der Automobilbesitzer stellt mit seinen erhobenen Handflächen das heranfahrende Automobil dar, da sieht er das Tricykle das ihm in die Quere kommt, die rechte Hand löst sich ab und warnt durch Hin- und Herfuchteln das Tricykle, das
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