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Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)

Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)

Titel: Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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sanft geneigten schiefen Ebene – oder wie das Wasser, das man in der Badewanne losläßt und das so langsam abrinnt, daß es immer noch dazusein scheint. Auch verstopft sich der Stöpsel noch manchen Augenblick. Zum Schluß ist doch alles dahin. – Unser Ärger nachher, da man einen solchen Verlust nie mehr einbringen kann. Ob uns bei Selbstmorddrohung der Direktor die 10 Francs geben würde? – Ein guter Gedanke, der sich an diesen Verlust knüpft, ist, wie wir jetzt sehn, in Verlust geraten.
 
Es war ein langer Tag!
[Tagebuch Franz Kafka:]
Entdeckung des Spielsaales in Luzern. 1 fr. Entrée. 2 lange Tische. Wirkliche Sehenswürdigkeiten sind hässlich zu beschreiben, weil es förmlich vor Wartenden geschehen muss. An jedem Tisch ein Ausrufer in der Mitte mit 2 Wächtern nach beiden Seiten hin.

Höchsteinsatz 5f. »Die Schweizer werden gebeten, den Fremden den Vortritt zu lassen, da das Spiel zur Unterhaltung der Gäste bestimmt ist.«
 
Ein Tisch mit Kugel, einer mit Pferdchen. Croupiers in Kaiserrock. Messieurs faites votre jeu – marquez le jeu – les jeux sont faits – sont marqués – rien ne va plus. Croupiers mit vernickelten Rechen an Holzstangen. Was sie damit können: Ziehn das Geld auf die richtigen Felder, sondern es, ziehn Geld an sich, fangen von ihnen auf die Gewinnfelder geworfenes Geld auf. Einfluss der verschiedenen Croupiers auf Gewinnchancen oder besser der Croupier, bei dem man gewinnt, gefällt einem. Aufregung vor dem gemeinsamen Entschluss zu spielen, man fühlt sich im Saal allein. Das Geld (10 fr) verschwindet auf einer sanft geneigten Ebene. Der Verlust von 10 fr. wird als eine zu schwache Verlockung zum Weiterspielen empfunden, aber doch als Verlockung. Wut über alles. Ausdehnung des Tages durch dieses Spiel.
    Das Glücksspiel, an dem sich Brod und Kafka im August 1911 im Kursaal von Luzern versuchten, heißt ›Boule‹ (nicht zu verwechseln mit dem französischen Kugelsport gleichen Namens) und ist eine stark vereinfachte Variante des Roulette. Man kann lediglich auf Zahlen von 1 bis 9 setzen, mit Ausnahme der 5, die Gewinnzahl der Bank. Das heißt, langfristig geht ein Neuntel sämtlicher Einsätze an die Bank, so dass die Gewinnchancen der Spieler hier weit schlechter sind als beim Roulette. Außerdem ist der Kessel starr, die Kugel ist aus Kautschuk.
    Weder Kafka noch Brod hatten bis zu diesem Zeitpunkt je ein Spielcasino betreten, sie waren völlig ahnungslos – nur so ist zu erklären, dass sie zunächst glaubten, durch gleichzeitiges Setzen auf ›gerade‹ und ›ungerade‹ ohne Verluste davonzukommen. Die 10 Francs, die sie schließlich verloren, waren etwa der Betrag, den sie gemeinsam pro Tag für Hotel und Restaurant aufwandten. Kafka hatte nach dieser Erfahrung genug vom Glücksspiel, Brod hingegen besuchte zwei Jahre später auch das Casino von Monaco.
    Die von Brod und Kafka erwähnten »Pferdchen« weisen darauf hin, dass im Luzerner Kursaal auch ›Petits chevaux‹ gespielt wurde, der Vorgänger des Boule. Die Möglichkeiten des Setzens waren hier dieselben, die Gewinn-Nummer wurde jedoch durch ein Rennen mechanischer Pferdefiguren ermittelt. Ihren Spieltisch skizzierten Kafka und Brod aus dem Gedächtnis, die Anordnung der Zahlen ist nicht ganz korrekt.

76
    Ist das Kafka? (I)
    Am 11. September 1909 besuchte Kafka gemeinsam mit Max Brod und dessen Bruder Otto ein Flugmeeting in der Nähe von Brescia, auf dem Flugfeld von Montichiari. Was sie dort zu sehen bekamen, lässt sich sehr genau nachvollziehen, da sowohl Brod als auch Kafka ihre Eindrücke in Reisefeuilletons verarbeiteten. Kafkas Text Die Aeroplane von Brescia erschien noch im selben Monat in der Prager Tageszeitung Bohemia .
    Es war das erste Mal, dass Kafka Flugmaschinen sah, denn eine vergleichbare Veranstaltung, bei der Piloten ihre Geräte vorführten und in Flugwettbewerben gegeneinander antraten, hatte es in Prag zuvor noch nicht gegeben. Gerade in diesem Sommer jedoch war die Aviatik in aller Munde, denn dem Franzosen Louis Blériot war es im Juli als Erstem gelungen, den Ärmelkanal zu überfliegen. Blériot war denn auch der Star von Brescia, und aus Kafkas Schilderung geht deutlich hervor, dass man vor allem seinetwegen gekommen war: »Und Blériot? fragen wir. Blériot, an den wir die ganze Zeit über dachten, wo ist Blériot?«
    Zunächst schauen Kafka und Brod zu, wie Blériot und seine Mechaniker längere Zeit vergeblich versuchen, den Motor des Aeroplans anzuwerfen.

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