Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)
aufgefrischt. Viele neue Zuschauer treten auf, die auf billige Weise den äussersten Genuss der Protokollaufnahme haben werden. Der Automobilist löst sich von seiner Gruppe und geht dem Polizeimann entgegen, der die Angelegenheit sofort mit der gleichen Ruhe aufnimmt, welche die Beteiligten erst durch halbstündiges Warten sich verschafft haben. Die Protokollaufnahme beginnt ohne lange Untersuchung. Der Polizeimann zieht aus seinem Notizbuch mit der Schwerfälligkeit eines Bauarbeiters einen alten schmutzigen aber leeren Bogen Papier, notiert die Namen der Beteiligten, schreibt die Bäckerfirma auf und geht um dies genau zu machen schreibend um das Tricykle herum. Die unbewusste unverständige Hoffnung aller Anwesenden auf eine sofortige sachliche Beendigung der ganzen Angelegenheit durch den Polizeimann geht in eine Freude an den Einzelheiten der Protokollaufnahme über. Diese Protokollaufnahme stockt bisweilen. Der Polizeimann hat sein Protokoll etwas in Unordnung gebracht und in der Anstrengung es wieder herzustellen, hört und sieht er weilchenweise nichts anderes. Er hat nämlich den Bogen an einer Stelle zu beschreiben angefangen, wo er aus irgend einem Grunde nicht hätte anfangen dürfen. Nun ist es aber doch geschehn und sein Staunen darüber erneuert sich öfters. Er muss den Bogen immerfort wieder umdrehn, um den schlechten Protokollanfang zu glauben. Da er aber von diesem schlechten Anfang bald abgelassen und auch anderswo zu schreiben angefangen hat, kann er, wenn eine Spalte zu Ende ist, ohne grosses Auseinanderfalten und Untersuchen unmöglich wissen, wo er richtigerweise fortzusetzen hat. Die Ruhe die dadurch die Angelegenheit gewinnt, lässt sich mit jener frühern durch die Beteiligten allein erreichten gar nicht vergleichen.
Eintrag in Kafkas Reisetagebuch, datiert auf den 11. September 1911, während seiner zweiten Reise nach Paris, die er wiederum gemeinsam mit Max Brod unternahm. Brod gefiel Kafkas literarische Schilderung des Unfalls so gut, dass er sie im folgenden Monat bei einem gemeinsamen Treffen mit dem Schriftsteller Oskar Baum vorlas – in Gegenwart Kafkas, der davon gar nicht erbaut war und angesichts der mangelnden Qualität seiner »kleinen Automobilgeschichte« nur »Bitterkeit« empfand.
Tricycle porteur, Paris
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Kafka und Brod verspielen die Reisekasse
[Tagebuch Max Brod:]
Die Heimkehrenden werden durch klingendes Geld aufgehalten. Wir erinnern uns daran, was uns die ganze Zeit über im Halbbewußten lag, daß in Luzern gespielt wird. – Man zahlt 1 Franc Entree und tritt in einen Raum, der in der Verlängerung der Tür breit leer ist, während zu beiden Seiten lange Gruppen von Leuten stehn. An den Wänden sitzen andere, warten, eine alte Dame schläft. Jede der zwei Menschengruppen drängt sich um einen Tisch, der eigentlich aus fünf Teilen besteht, in der Mittel Kugel oder Pferdchen, zu beiden Seiten je zwei Tische mit dieser Einteilung:
Die leeren Felder rechts und links bedeuten 2, 4, 6, 7 und 1, 3, 8, 9.
An der Wand Belehrung: daß durch ein Gesetz vom so und so vielten dieses Spiel gestattet ist. Höchsteinsatz 5 Frcs. »Da das Spiel zur Unterhaltung der Gäste bestimmt ist, werden die Einheimischen gebeten, den Fremden den Vortritt zu lassen.«
Die Spieler stehn. Croupiers sitzen im schwarzen Kaiserrock. Ein Spielleiter auf erhöhtem Sitz – zwei Hausknechte in Schwarz. Der Ausrufer: Messieur faites votre jeu – marquez le jeu – les jeux sont faits – sont marqués – rien ne va plus – le trois. Betonung auf dem Le. Unablässig. Dabei wirft er leicht die Gummikugel, die sich spät auf einer der Ziffern unten festsetzt. Die Worte teilen die kurze Zeit gut ein. – Die Croupiers haben Metallrechen an schwarzen, im Handgriff schon abgewetzten Stangen. Sie ziehn das Geld an sich, oder sie werfen es auf die gewinnenden Felder, wobei sie es mit dem Rechen auffangen. Sie teilen es, sie zeigen auch damit.
Man darf die Hände nicht auf das grüne Spielfeld legen.
Wir beraten am kühlen offenen Fenster. Zuerst schlage ich vor, ich solle grad, Kafka immer ungrad setzen. Das scheint uns lächerlich, da wir die 5 übersehn. Erst im Spiel bemerken wir es. Wir wechseln an der Kassa jeder fünf Frank. Setzen abwechselnd nur immer auf ungrad. Kafka gewinnt, ich habe bald gar nichts mehr. – Dann verliert auch Kafka. Dabei haben wir immer die Empfindung, daß so ein Spiel ewig dauern müsse. Unser Irrtum. – Das Geld verliert sich wie auf einer
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