Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)
sein.
Pariser Metrostation
Die Fremden erkennt man daran, dass sie oben schon auf dem letzten Absatz der Metrotreppe sich nicht mehr auskennen, sie verlieren sich nicht, wie die Pariser, aus der Metro übergangslos in das Strassenleben. Auch stimmt beim Herauskommen die Wirklichkeit erst langsam mit der Karte überein, da wir auf diesen Platz, wo wir jetzt nach dem Heraufkommen hingestellt sind, niemals zu Fuss oder zu Wagen gekommen wären, ohne Führung der Karte.
Gemeinsam mit Max Brod reiste Kafka zweimal nach Paris, jeweils für wenige Tage: vom 9. bis 17. Oktober 1910 und vom 8. bis 13. September 1911. Seine Notizen über die Pariser Metro stammen von 1911, beziehen sich jedoch – wie das anfängliche »damals« erkennen lässt – auf Eindrücke aus beiden Jahren.
Eine U-Bahn gab es in seiner Heimatstadt Prag nicht, das Berliner Verkehrsnetz erlebte Kafka erst im Dezember 1910. Seine Impressionen aus der Pariser Metro schildern also die Begegnung mit einem für ihn völlig neuen Verkehrsmittel. Auch die von Max Brod überlieferten Reiseaufzeichnungen belegen, dass die Freunde dabei weniger an technischen Einzelheiten interessiert waren als vielmehr an den charakteristischen sozialen und körperlichen Phänomenen, welche die neue Art der Fortbewegung begleiteten.
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Kafka fährt Karussell
Der Tanzboden, zweigeteilt, in der Mitte abgeteilt in einem zweireihigen Verschlag die Musikkapelle. Vorläufig leer, kleine Mädchen lassen sich über die glatten Bretter gleiten. […] Ich biete ihnen meine »Brause« an, sie trinken, die Älteste zuerst. Mangel einer wahren Verkehrssprache. Ich frage, ob sie schon genachtmahlt haben, vollständiges Unverständnis, Dr. Schiller fragt, ob sie schon Abendbrot gegessen haben, beginnende Ahnung, (er spricht nicht deutlich, atmet zu viel) erst bis der Friseur fragt, ob sie gefuttert haben, können sie antworten. Eine zweite Brause, die ich für sie bestelle, wollen sie nicht mehr, aber Karousselfahren wollen sie, ich mit den 6 Mädchen (von 6–13 Jahren) um mich fliege zum Karoussel. Am Weg rühmt sich die eine, die zum Karousselfahren geraten hat, dass das Karoussel ihren Eltern gehört. Wir setzen uns und drehn uns in einer Kutsche. Die Freundinnen um mich, eine auf meinen Knien. Sich hinzudrängende Mädchen, welche mein Geld mitgeniessen wollen, werden gegen meinen Willen von den Meinigen weggestossen. Die Besitzerstochter kontrolliert die Rechnung, damit ich nicht für die Fremden zahle. Ich bin bereit, wenn man Lust hat, noch einmal zu fahren, die Besitzerstochter selbst sagt aber, dass es genug ist, jedoch will sie ins Zuckerzeugzelt. Ich in meiner Dummheit und Neugierde führe sie zum Glücksrad. Sie gehn, soweit es möglich ist, sehr bescheiden mit meinem Geld um. Dann zum Zuckerzeug. Ein Zelt mit einem grossen Vorrat, der so rein und geordnet ist, wie in der Hauptstrasse einer Stadt. Dabei sind es billige Waren, wie auf unseren Märkten auch. Dann gehn wir zum Tanzboden zurück. Ich fühlte das Erlebnis der Mädchen stärker als mein Schenken. Jetzt trinken sie auch wieder die Brause und danken schön, die Älteste für alle und jede für sich. Bei Beginn des Tanzes müssen wir weg, es ist schon ¾ 10.
Auszug aus der Schilderung eines Ausflugs von der Kuranstalt Jungborn (Harz) zu einem Schützenfest im nahe gelegenen Stapelburg. Kafka unternahm diesen Spaziergang im Juli 1912 gemeinsam mit einem Friseur aus Berlin und einem Magistratsbeamten aus Breslau. Der Text findet sich in den Reisenotizen, die er regelmäßig an Max Brod schickte.
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Ist das Kafka? (II)
Am 9. Mai 1920 trafen sich in Meran etwa 15 000 deutschsprachige Südtiroler zu einer großen ›Autonomiekundgebung‹, mit der sie ihren (letztendlich vergeblichen) Protest gegen die italienische Besatzung zum Ausdruck brachten. Musikkapellen zogen über den Bahnhofsvorplatz, gespielt und gesungen wurde unter anderem das später zur Tiroler Landeshymne erklärte Andreas-Hofer-Lied: »Zu Mantua in Banden …«
Kafka hielt sich zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als fünf Wochen in Meran auf, in der Hoffnung, seine Lungenerkrankung auszukurieren. Er wohnte in der Pension ›Ottoburg‹ im Villenort Meran-Untermais, von wo aus er zahlreiche Spaziergänge und kleinere Ausflüge unternahm, häufig in Begleitung anderer Kurgäste, die er im Speiseraum der Pension kennengelernt hatte. Die politische Kundgebung erwähnt er in seinen Briefen nicht, doch ein historisches Foto des Ereignisses legt
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